Ai Weiwei Deutschlands liebster Dissident

München · Ai Weiwei konnte China vier Jahre nicht verlassen. Die erste Reise brachte den regimekritischen Künstler in München mit seinem sechsjährigen Sohn zusammen. Wann er in Berlin seine Professur antreten wird, ist noch ungewiss.

 Ai Weiwei am Flughafen mit seinem Sohn und dessen Mutter.

Ai Weiwei am Flughafen mit seinem Sohn und dessen Mutter.

Foto: dpa, kne mkx kde

"Heute ist der 600. Tag!" Diesen Satz hatte Ai Weiwei kürzlich im sozialen Netzwerk Instagram zu einem Blumenfoto gestellt. Jeden Tag gab es ein Bild des politischen Dissidenten und berühmten chinesischen Künstlers. An jedem Tag, den er ohne Pass leben musste. Morgens erneuerte er die Blumen in dem Fahrradkorb vor seinem Atelier und stellte das aktuelle Foto ins Netz. Als Lebensbeweis einerseits, als Dokumentation seines Nichtwegkommens andererseits.

Am 601. Tag erhielt er nach vierjähriger Festsetzung durch die chinesischen Behörden seinen Pass zurück. Dieses Mal postete Ai Weiwei (57) ein Selbstporträt mit Pass in der Hand. Er war wieder frei, konnte China endlich verlassen, was er sehr schnell tat. Sein Lufthansa-Flug führte ihn von Peking nach München, wo er als erstes seinen sechsjährigen Sohn Ai Lao in die Arme schloss, den er ein Jahr nicht mehr gesehen hatte. Er hatte das Kind aus Angst nach Berlin geschickt, wo es mit seiner Mutter Wang Fen, einer unabhängigen Filmemacherin, lebt.

Die beiden hatten Ai in München erwartet, wo er sich ärztlich untersuchen lässt. 2009 hatte er sich im Klinikum Großhadern einer Notoperation unterziehen müssen, nachdem chinesische Sicherheitsleute ihn am Kopf verletzt hatten.

Kunst, Leben und Überzeugung sind eins

Ai Weiwei wäre nicht Ai Weiwei, wenn er sein persönliches Drama nicht dazu genutzt hätte, eine Gegenöffentlichkeit zur chinesischen Propaganda herzustellen. Er dokumentierte damals die Operation, stellte Bilder seines verletzten Gehirns auf Twitter, wurde zum Paparazzo in eigener Sache. Als Konzeptkünstler zeigte er diese Fotos auch bei einer Duisburger Kunstausstellung.

Seine Kunst, sein Leben und seine Überzeugung lassen sich nicht voneinander trennen. Ähnlich wie einst Joseph Beuys steht der politisch arbeitende Universalist für einen erweiterten Kunstbegriff. Nicht Arbeiten alleine - schon gar nicht solche, die in einen Rahmen passen - sind Ausdruck seines Schaffens. Oft sind es Performances, Installationen und Agitationen.

In London hat er 100 Millionen von Hand gefertigte Sonnenblumenkerne aus Porzellan in die Turbinenhalle der Tate Modern gebracht, die die Menschen zertrampeln sollten. In der Steiermark errichtete er einen vier Tonnen schweren Felsen auf dem Dachstein, um an das Erdbeben in Sichuan zu erinnern, bei dem 5000 Schüler ums Leben kamen.

In Duisburg modelte er 39 steinzeitliche Vasen um, entzog den kostbaren Tongefäßen ihren kulturellen Wert, um sie in zeitgenössische Kunst zu verwandeln. 6000 Hocker aus der Zeit der Ming-Dynastie hat er in Berlin dicht an dicht gereiht. Sie sind Sinnbild für den kulturellen Verlust. Das Alte gilt in China nichts mehr, alle Wurzeln werden gekappt. Das gefällt Ai Weiwei nicht.

Liest man sein Werk aufmerksam, ist der Regimekritiker ein Bewahrer und Mahner. Er folgt dem Motto, eine kleine Sache am Tag zu tun, die beweist, dass Gerechtigkeit existiert. Er kommentiert den Wandel, Verstöße gegen Menschenrechte, Umweltverschmutzung und Ausbeutung. Manchmal schafft er dabei nur Konzeptkunst für die Komfortzone.

Als Künstler ist er Autodidakt, der Sohn eines Dichters hat Film und Design studiert. Aber er ist einer Rangliste zufolge weltweit der einflussreichste Kulturschaffende. Weil er wie kein Zweiter Kunst mit politischer Teilhabe verbindet. In China besuchen Millionen Menschen Ai Weiweis Blog. Zwar wird die Seite immer wieder zensiert und geschlossen, doch ist sie danach stets unter neuer Adresse erreichbar - ein Katz-und-Maus-Spiel im Dienste der Menschenrechte.

Voraussichtlich kommende Woche reist Ai nach Berlin. Dort soll er eine Gastprofessur annehmen, die ihm vor vier Jahren an der Universität der Künste angetragen wurde.

(RP)
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