Grass-Klassiker Die "Blechtrommel" wird 50

Düsseldorf (RP). Nichts deutete damals auf etwas besonders Tolles hin. Der Tanzsaal im "Schwarzen Adler" hatte mehr dörflichen Charakter, als einem Intellektuellen lieb sein konnte. Und die Ortschaft Großholzleute – nun ja, sie zählt auch heute noch nicht zu den Metropolen des Landes. Aber 1958 ist sie Tagungsort der Gruppe 47, und einer der Autoren hat sich beim "Gruppenleiter" Hans Werner Richter schon vorab zur Lesung angemeldet. Auch davon erwartet niemand etwas Spektakuläres.

Düsseldorf (RP). Nichts deutete damals auf etwas besonders Tolles hin. Der Tanzsaal im "Schwarzen Adler" hatte mehr dörflichen Charakter, als einem Intellektuellen lieb sein konnte. Und die Ortschaft Großholzleute — nun ja, sie zählt auch heute noch nicht zu den Metropolen des Landes. Aber 1958 ist sie Tagungsort der Gruppe 47, und einer der Autoren hat sich beim "Gruppenleiter" Hans Werner Richter schon vorab zur Lesung angemeldet. Auch davon erwartet niemand etwas Spektakuläres.

Doch Günter Grass, ein 30-jähriger, wildschnauzbärtiger Mann — bis dahin leidlich bekannt als Lyriker und Dramatiker —, liest aus dem Manuskript eines Romans, ach was: es ist einer der wichtigsten Romane des 20. Jahrhunderts. Und alle merken es schon nach wenigen Sätzen aus Kapitel 1. Einige der Kollegen, so wird sich Richter später erinnern, sollen mit halb offenem Mund zugehört haben. Als ein Jahr später — also vor 50 Jahren — die "Blechtrommel" in den Handel kommt, ist das Zertifikat praktisch schon ausgestellt: Weltliteratur.

Ohnehin war 1959 — wie heißt es so schön: ein extrem fruchtbares Jahr für die deutsche Nachkriegsliteratur. Denn neben der "Blechtrommel" erscheinen auch Uwe Johnsons "Mutmaßungen über Jakob" sowie "Billard um halbzehn" von Heinrich Böll. So nah wie damals kam man nicht mehr ans "Klassenziel der Weltkultur" heran, wie es Hans Magnus Enzensberger in einem ungewohnt emphatischen Ton registrierte.

Natürlich blieb auch die "Blechtrommel" nicht unumstritten. Was sich gleich zu Beginn am Rande eines kaschubischen Kartoffelackers unter den vier Röcken der Anna Bronski ereignet, geriet bald unter Pornographie-Verdacht. Auch dass die schöne Mama des kleinen Blechtrommlers Oskar haufenweise Aale verzehrt und dann erbricht, schien ästhetisch höchst zweifelhaft.

Doch Grass ist weder Pornograph noch Ekelautor. Denn solche Szenen werden bei ihm nie nur um des Effekts willen so erzählt. Immer sind es Leitmotive, und oft lauern hinter Lust und Leidenschaft nur Leid und Tod. Ein großes Welttheater ist dieser Roman, der so klein beginnt — mit einem der berühmtesten Anfangssätze der Literatur: "Zugegeben, ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt . . ." Schon das ist unglaublich. Ausgerechnet der, der uns auf fast 800 Seiten die deutsche Geschichte von Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die Nachkriegszeit erzählt, ist ein Pflegefall, ist eingesperrt und offenbar höchst unzuverlässig: Denn wer anfangs betont, er gebe etwas zu, wird später anderes mit Sicherheit verschweigen.

Oskar gehört zu den großen Schelmen der Weltliteratur, im Geiste verwandt mit Grimmelshausens "Simplicissimus". Doch während der barocke Schelm seinen Bericht auf einer einsamen Insel verfasst, sitzt unser Oskar in der Zelle seiner Anstalt. Und auch dies darf als Zeichen einer Zeit gedeutet werden, in der die eigene Schuld mit blindwütiger Arbeit verdrängt wird. Die "Unfähigkeit zu trauern" nannte das der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich. In der "Blechtrommel" ziehen sich die Menschen in einen Düsseldorfer Zwiebelkeller zurück, um wenigstens im Anblick der aufgeschnittenen Knolle ein paar Tränchen zu vergießen.

Als Grass aus der "Blechtrommel" in Großholzleute las, war erstmals auch ein Kritiker aus Polen dabei. Sein Name: Marcel Reich-Ranicki. Der soll, so erinnerte sich später Hans Werner Richter, nach den ersten Sätzen aufgehört haben, sich Notizen zu machen. Auch das unglaublich.

(RP)
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