Kaum jemand kennt sie Die letzten Strophen entzaubern Sankt Martin

Düsseldorf · Das Martinsfest ist auch ein Fest des Singens. Zu den berühmtesten Liedern zählt "Sankt Martin ritt durch Schnee und Wind", Ende des 19. Jahrhunderts wahrscheinlich am Niederrhein entstanden. Meist werden nur vier der acht Strophen gesungen - aus gutem Grund.

Der Martinszug gehört am Niederrhein zu den am besten gepflegten Traditionen - hier in Mönchengladbach.

Der Martinszug gehört am Niederrhein zu den am besten gepflegten Traditionen - hier in Mönchengladbach.

Foto: Hans-Peter Reichartz

Ausgerechnet das bekannteste Lied zu St. Martin muss ohne Verfasser auskommen. Entstanden ist es Ende des 19. Jahrhunderts, wahrscheinlich irgendwo am Niederrhein. Doch wer die Strophen schrieb, ist ungeklärt. Pure Nachlässigkeit? Oder hat der Verfasser sein Werk als so gering erachtet?

Ein großes Kunstwerk sind die vierzeiligen Volksliedstrophen tatsächlich nicht. In braven Jamben und reinen Reimen wird die Legende des heiligen Martin (316/17—397) erzählt, die Lebens- und Wirkungsgeschichte des römischen Offiziers, der aus Erbarmen mit einem Bettler am Wegesrand seinen Mantel teilt, den Dienst quittiert und sogar Bischof von Tours wird. Ja, auch das hohe Amt kommt vor in diesem Lied, allerdings in den kaum gesungenen Strophen fünf bis acht. Dass die heute fast vergessen sind, hat dem Lied genützt, nicht geschadet.

Die ganze Szenerie entschlüsselt

Die zweite Liedhälfte entzaubert nämlich die Legende. Was wir uns heimlich denken, wer in der Gestalt des Bettlers stecken könnte, plaudern die Strophen fünf und sechs munter aus. So erscheint dem Heiligen im Traum Gott selbst, und bekleidet ist er mit eben jenem Mantelstück, das der Soldat teilte. Die ganze Szenerie bei Wind und Schnee wird mit der Gottesbegegnung entschlüsselt. Martin ist nicht mehr der Soldat, nicht mehr nur der Barmherzige: In der Begegnung mit Gott wird er zum Jünger, den Gott im Jahre 371 bis zum Bischofsstab führen wird.

Mit der Legende treten auch die Worte des Matthäus-Evangeliums in die Welt: "Ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben", heißt es; und ein paar Sätze später: "Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan."

Drei Tage Haft

Warum muss der Auftritt des Herrn überhaupt genannt werden? Ist das Fortreiten des heiligen Martin am Schluss der vierten Strophe nicht viel dramatischer und rätselhafter — noch dazu "in Eil", wie es heißt? Als habe der Demütige plötzlich wieder nur seinen Auftrag im Sinn. Aber welcher ist es? Oder als ob er sich schäme. Wovor? Einer anekdotischen Randgeschichte zufolge soll der Offizier tatsächlich für seinen Dienst am armen Mann zur Rechenschaft gezogen worden sein: Drei Tage Haft gab es damals für die mutwillige Beschädigung von Militäreigentum.

Die überschaubare Kunstfertigkeit, die vollständige Geschichte in acht Strophen wie auch der fehlende Name des Autors haben einen Grund: Das Lied diente im 19. Jahrhundert vor allem der Katechese, der Unterweisung in der Kirchenlehre; es hatte also vollständig und leicht zu memorieren sein. "Sankt Martin ritt durch Schnee und Wind" war eine Art Gebrauchstext mit Musik — und in diesem Sinn schon früh erfolgreich: Im Zentralblatt der preußischen Unterrichtsverwaltung von 1912 findet sich unser Lied auf der Auswahlliste für das dritte und vierte Schuljahr wieder.

Tricksereien auch beim Martinstag

Damals wie heute singen wir, um uns der Gemeinschaft zu vergewissern, um uns Mut zu machen in der Dunkelheit, und natürlich, um fröhlich zu sein. Im trüben November ist das Martinsfest eine Feier der Lichtsymbolik und des guten Essens. Dafür musste man aber etwas tricksen: So fällt der Martinstag nicht auf den Todestag des Heiligen, sondern ungewöhnlicherweise auf den Tag seiner Beisetzung. Das passte viel besser, denn nach dem 11. November beginnt die vorweihnachtliche Bußzeit — der Vorabend bot traditionell beste Gelegenheit zum großen Schmaus.

Wie günstig, dass auch Gänse in der Legende eine tragende Rolle spielten. Sie verrieten Martin, als er in einem Stall dem Bischofsamt zu entkommen suchte. Nichts da, die Gänse entlarvten den Verzagten und werden bis zum heutigen Tag aus Dank für diese Tat munter verspeist. Eine etwas zwiespältige Moral. Vielleicht ist ja auch deshalb in keiner der acht Strophen von einer Gans die Rede.

(RP)
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