Interview mit Herta Müller Durch Sprache zur Wahrheit

Düsseldorf (RP). Interview Die Schriftstellerin Herta Müller (56) wird am Wochenende mit der Ehrengabe der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Gesellschaft ausgezeichnet. Ihr aktueller Roman "Atemschaukel" steht in der engeren Auswahl zum Deutschen Bücherpreis 2009.

Es sollte ein Roman zweier Autoren werden. Doch als Oskar Pastior vor drei Jahren starb, schrieb Herta Müller das Buch allein weiter: "Atemschaukel", ein Werk über das Schicksal und die Deportation der Rumäniendeutschen nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Roman, als "Manifest der Erinnerung" gerühmt, steht bereits auf der Shortlist zum Deutschen Bücherpreis 2009. Zunächst wird die 56-jährige Autorin aber am Wochenende mit der Ehrengabe der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Gesellschaft ausgezeichnet.

Das Schicksal der Rumäniendeutschen kurz nach Kriegsende ist kein Geheimnis, und dennoch ist es in Deutschland so gut wie unbekannt. Ist die Literatur da die bessere Vermittlerin von Vergangenheit?

Müller Nur die Literatur gibt einem die Möglichkeit, aus der Geschichte den einzelnen Menschen herauszuheben. Sie erlangt ihre Wahrheit durch Erfindung, imaginiert sie durch Sprache. Aber ein Geschehen dokumentieren und als Gesamtbild präsentieren kann nur die Geschichtsforschung. Sie kann untersuchen und durch Analysen und Zahlenstatistiken soziale, politische und psychologische Schlussfolgerungen herstellen. Beides, Literatur und Geschichtsforschung, sind gleichermaßen notwendig — sie ergänzen einander.

Denken Sie manchmal daran, was Oskar Pastior zur "Atemschaukel" sagen würde?

Müller An Oskar Pastior denke ich jeden Tag — mit und ohne "Atemschaukel". Denn er fehlt mir als Freund. Er hat sich dieses Buch sehr gewünscht und die letzten Jahre sehr viel Zeit investiert, um mir über seine Lagerjahre zu erzählen. Es muss für ihn wichtig gewesen sein, jemandem davon zu erzählen. Und es wurde, je öfter wir uns trafen, immer wichtiger. Für mich war es ein Glück, dass er bereit war, sich der Lagerzeit noch einmal zu stellen. Ich glaube, es war für ihn eine gleichermaßen quälende wie beglückende Notwendigkeit. Oskar Pastior war bis zuletzt ganz jung geblieben, ich vergaß den Altersunterschied, wenn wir zusammensaßen. Er war schelmisch, melancholisch, provinziell und kosmopolitisch in einem und in einer nur ihm eigenen Art. Und so war er auch direkt und diskret in einem.

Wie würden Sie seinen Anteil am Buch beschrieben?

Müller Es sind all die Details des Lageralltags, die Materialien und Arbeitsvorgänge, die Hungerphantasien wie etwa der "Hungerengel" — für ihn ein ganz normales Wort für den "Nullpunkt", wie er sagte. So real wie das Wort Lager selbst. Er hat mir sehr vertraut.

Wie schwierig war es, für Ihren Roman eine Sprache zu finden, die dem Leid gerecht wird?

Müller Das Thema sucht sich seine Sprache, und die zwingt einen millimeterweise auf Genauigkeit. Man muss ins Erzählen so hineingehen, dass die Tatsachen dabei zerbrechen. Nur so, in ihren kleinsten Teilen und den Details, sind sie beschreibbar. Ein Trauma muss zerlegt sein in die Einzelheiten, die es verursacht haben. Mit dem Begriff Trauma oder Beschädigung kann ein Text nichts anfangen.

Welche Bedeutung hat für Sie Heinrich Heine — in dessen Namen Sie geehrt werden —, und wann sind Sie seinem Werk erstmals begegnet?

Müller In einem Schulbuch stand die "Loreley" — das weiß ich noch. Aber als ich zu schreiben begann, spielte Heine keine Rolle. Ich war damals Übersetzerin in einer Maschinenfabrik und hatte mich geweigert, als Spitzel für den Geheimdienst zu arbeiten. Ich saß in der Falle täglicher Schikanen, bis ich dann aus der Fabrik entlassen wurde. Danach kamen ständig Verhöre, und derselbe Geheimdienst, der mich aus der Fabrik geschmissen hatte, bezeichnete mich als parasitäres Element.

Und das war Anlass zum Schreiben?

Müller In dieser Klemme begann ich mit den Prosastücken der "Niederungen", um mich meiner selbst zu vergewissern. Ich durchkämmte mein bisheriges Leben, die Kindheit im kleinen Dorf, die SS-Vergangenheit des Vaters, die Verstrickung der deutschen Minderheit ins Verbrechen der Nazis, die Willkür der Diktatur, in der ich jetzt lebte. Heine hatte in diesem hin und her geschaukelten Leben keinen Platz.

Und heute?

Müller Man scheut sich, seine eigenen Ängste, die Anfeindungen, Verleumdungen, das Exil mit dem Schicksal Heines zu vergleichen, wenn man — wie ich — einen SS-Soldaten zum Vater hat. Ich habe keine Schuldgefühle; ich war damals noch nicht auf der Welt. Dennoch ist ein Vater Bestandteil der eigenen Biographie; das lässt sich nicht ändern. Man schaut seiner eigenen Zeit in die Augen, aber da ist überall auch ein Rückspiegel. Und in dem sitzt die Zeit der Eltern drin. Der Rückspiegel weiß aber auch, wie sehr Heine unter dem Antisemitismus seiner Zeit zu leiden hatte. Aber auch ohne den Hauch meines Vaters wäre jeder Vergleich zwischen Heines Zeit und meiner in einem Überwachungsstaat sozialistischen Zuschnitts fragwürdig.

(RP)
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