Philosophen (10) Ernst Bloch — Philosoph der Hoffnung

Düsseldorf (RP). Der Mensch ist ein Mängelwesen für Ernst Bloch. Aber eines, das die Fähigkeit besitzt, aus diesem Mangel Utopien zu entwerfen. Dieses "Prinzip Hoffnung" hat der Philosoph in allen Lebensbereichen nachzuweisen versucht und seine eigene Hoffnung auf den Sozialismus gesetzt. Doch der DDR kehrte er 1961 desillusioniert den Rücken.

Für Ernst Bloch ist die wertvollste Eigenschaft des Menschen seine Unzufriedenheit. Denn aus ihr resultiert sein Streben nach Verbesserung, sein Wille, etwas zu verwirklichen, das noch nicht ist, das sich in der Mangelerfahrung aber bereits abzeichnet. So lehrt etwa Hunger den Menschen, Werkzeuge für die Jagd zu erfinden, Kälte lässt ihn Hütten bauen. Bloch zeigt auf, dass am Anfang jeder Utopie die Erfahrung steht, nicht zu haben, was man haben müsste, um zufrieden zu sein. Doch dieses Nichthaben ist nicht einfach ein leeres Nichts, sondern in ihm liegt ein Entwurf zur Gestaltung der Zukunft.

Auf die aus der Mangelerfahrung geborene Sehnsucht jedes einzelnen Menschen, aber auch ganzer Gesellschaften gründet Bloch sein "Prinzip Hoffnung". Hinter dem viel zitierten Titel seines Hauptwerks verbirgt sich also keine Ratgeber-Philosophie. Bloch war auch kein besonders optimistischer Mensch. Vielmehr hat er Hoffen als zutiefst menschliche Regung erkannt und darin einen Prozess gesehen, der die gesamte Geschichte vorantreibt.

Dabei ist Hoffnung als tastende Vorwärtsbewegung nicht zu verwechseln mit Zuversicht, mit tumbem Fortschrittsglauben. Bloch formuliert kein Gesetz des Besserwerdens, denn er kalkuliert das Scheitern von vornherein mit ein. Bei ihm heißt das dann: "Hoffnung ist das Gegenteil von Sicherheit, ist das Gegenteil eines naiven Optimismus. In ihr steckt dauernd die Kategorie der Gefahr."

Außerdem meint Bloch mit der Sehnsucht der unter Mangel leidenden Menschen keine banalen Alltagswünsche nach dem Zweitauto oder dem Ferienhaus, also nach mehr von etwas, das es schon gibt. Bloch zielt auf Utopien im Wortsinne, also auf Vorstellungen von etwas, das noch keinen Ort hat, das noch nicht in der Welt ist. "Indem wir hinfahren, erhebt sich die Insel Utopia aus dem Meer des Möglichen", hat er einmal gesagt. Das bedeutet auch: Utopien sind nicht nur visionäre Eingebungen des Menschen, sondern sie sind bereits in der Welt angelegt, sie schlummern in der Materie, können geweckt werden oder nicht. Für Bloch ist die Wirklichkeit ein riesiger Schatz noch nicht eingelöster Möglichkeiten.

Darum ist er ein überaus gründlicher Beobachter dieser Wirklichkeit. Er sucht in ihr nach noch nicht abgegoltenen Utopien. Dabei ist ihm kein Gegenstand zu gering, um ihn zu betrachten. Mit der Anordnung der Waren im Schaufenster beschäftigt er sich genauso wie mit dem Aufbau der Theaterbühnen im Barock, mit Richard Wagner genauso wie mit Karl May. In Märchen sucht er nach sozialen und technischen Zukunftsentwürfen, die Sammlung "Aus 1001 Nacht" nennt er "Modellbuch für Erfindungen". Sein Hauptwerk "Das Prinzip Hoffnung" ist eine 1600 Seiten starke Enzyklopädie menschlicher Hoffnungen. Er durchsucht darin Vergangenheit und Gegenwart nach Spuren von Utopien, die es wert wären, weiterentwickelt zu werden. Er knüpft damit an den jungen Karl Marx an, der ebenfalls die Wirklichkeit analysieren wollte, weil er annahm, dass "die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewusstsein besitzen muss, um sie wirklich zu besitzen".

Allerdings ist Bloch kein naiver Utopiensammler. Er untersucht auch, inwiefern Wunschvorstellungen Herrschaft stabilisieren können. Ideologische Gedankengebäude sind nach Bloch einzureißen, sie sind einem Prozess der Ent-täuschung auszusetzen, den Bloch "Kältestrom" nennt. Der Mensch bleibt daraufhin nicht desillusioniert in einer Trümmerlandschaft zurück, sondern er findet, was zu hoffen übrig bleibt, er findet den "Wärmestrom" begriffener Hoffnung.

Religion etwa billigt Bloch durchaus utopische Gehalte zu. Doch indem die meisten Religionen den Gläubigen die Erfüllung ihrer Utopien erst für das Jenseits versprechen, wirken sie stabilisierend auf das Diesseits und sind laut Bloch somit ideologisch. Daher plädiert er dafür, die Wunschvorstellungen, die in Religionen artikuliert werden, ernst zu nehmen, aber daran zu arbeiten, sie auf Erden zu verwirklichen. Das geht so weit, dass Bloch sogar den Traum von der Unsterblichkeit, der sich im Glauben an die Auferstehung ausdrückt, als eine ferne Utopie in dieser Welt ausgibt.

Nun wäre das alles politisch noch wenig brisant, hätte sich Bloch nicht an einem außergewöhnlichen Punkt der Geschichte gewähnt. Seiner Analyse nach hat sich der Mensch schon immer nach Erlösung von Mühsal und Erniedrigung gesehnt. Weil es für die Realisierung dieser Wunschvorstellung allerdings noch keine Anzeichen gab, war dies laut Bloch eine "abstrakte Utopie". Mit dem Kommunismus hält er jedoch den historischen Zeitpunkt für gekommen, um die Idee einer Gesellschaft zu realisieren, in der die Menschen davon befreit sind, ihre Arbeitskraft verkaufen zu müssen und unter der Herrschaft anderer zu leben. Diese doppelte Befreiung von materiellem wie herrschaftlichem Zwang fasst Bloch in das Bild des Menschen mit "aufrechtem Gang". Durch den Kommunismus, der nicht nur dieses Ziel entwirft, sondern auch den Weg dorthin, hält Bloch die Aufhebung von Entfremdung und Unterdrückung für eine "objektiv reale Möglichkeit" — aus der "abstrakten" ist eine "konkrete Utopie" geworden. Bloch formuliert diese Hoffnung so: "Der Marxismus, in allen seinen Analysen der kälteste Detektiv, nimmt aber das Märchen ernst, den Traum vom Goldenen Zeitalter praktisch." Und das hat Folgen. Denn Bloch hält es in bestimmten historischen Momenten für die Pflicht des Menschen, die Chance zur Weltveränderung zu ergreifen. Er nennt diese Pflicht "militanten Optimismus".

Diese Hintergründe sind wichtig, um manche Entscheidungen im Leben des Philosophen Ernst Bloch zu verstehen. Etwa die, 1949 aus dem amerikanischen Exil in die DDR zu gehen. Im "Prinzip Hoffnung" schreibt er: "Alles an den Hoffnungsbildern Nicht-Illusionäre, Real-Mögliche geht zu Marx, arbeitet in der sozialistischen Weltveränderung." Daran wollte er mitarbeiten, also folgte er dem Ruf hoher DDR-Funktionäre und wurde mit 64 Jahren Professor an der Universität Leipzig.

Ein bewegtes Leben lag da bereits hinter ihm. 1885 als Sohn eines einfachen Eisenbahnbeamten in Ludwigshafen geboren, beschäftigte sich Bloch schon als Jugendlicher mit philosophischen Schriften und studierte nach dem Abitur Philosophie, Musik und Physik in München und Würzburg. Nach der Promotion 1908 lebte er als freier Schriftsteller in Deutschland, Italien, Frankreich, freundete sich mit Georg Lukács an, gehörte zu Zirkeln um Georg Simmel und Max Weber. Er zählt zu den wenigen deutschen Denkern, die den Ersten Weltkrieg nicht begeistert herbeisehnten und ging als Pazifist 1917 ins Schweizer Exil. Sein erstes großes Werk "Geist der Utopie" hatte er da gerade fertig.

Früh erkannte Bloch auch die nationalsozialistische Gefahr in Deutschland und verfasste antifaschistische Kampfschriften wie "Erbschaft dieser Zeit". Wegen seiner jüdischen Herkunft musste er 1933 emigrieren, ging mit seiner dritten Ehefrau, der Architektin Karola Piotrkowska, über die Schweiz und Frankreich in die USA.

Doch seiner Hellsichtigkeit gegenüber dem Faschismus stehen verhängnisvolle Irrtümer gegenüber. 1937 rechtfertigte Bloch Stalins Moskauer Prozesse und wandte sich gegen "sinnlos übertriebene Kritik am Mutterland der Revolution", was unter anderem zum Bruch mit Adorno führte. Auch seine optimistische Übersiedlung in die DDR zeugt von einiger politischer Naivität. Zwar stieg er dort zunächst zum Staatsphilosophen auf, doch als er 1956 die Niederschlagung des Ungarnaufstands durch sowjetische Truppen kritisierte und mit der Losung "Jetzt muss statt Mühle endlich Schach gespielt werden" Freiheit für die Wissenschaft forderte, fiel er in Ungnade, wurde zwangsemeritiert und geriet zunehmend in Isolation.

Als Bloch dann während eines Aufenthalts in Westdeutschland vom Bau der Mauer überrascht wurde, beschloss er, im Westen zu bleiben und nahm eine Gastprofessur in Tübingen an. Da war er 76 Jahre alt, doch weit davon entfernt, sich zur Ruhe zu setzen.

1968 ergriff er Partei für die Studentenbewegung, traf sich mit Rudi Dutschke und bekundete sein Verständnis dafür, dass die Studenten gegen "akademisches Patriarchentum" aufbegehrten und sich Raum schaffen wollten, um "aufrecht gehen zu können". In den folgenden Jahren arbeitete Bloch daran, die Gesamtausgabe seines Werkes herauszugeben. Nur noch selten griff er schriftlich oder mit Tonbandkommentaren in das Tagesgeschehen ein. Am 4. August 1977, im Alter von 92 Jahren, fühlte er sich morgens schwach, legte sich hin, um auszuruhen, und erwachte nicht wieder.

Obwohl Blochs Schriften in den 60er und 70er Jahren ähnlich wie die von Benjamin, Adorno oder Marcuse zur Grundausstattung jedes Studentenzimmers gehörten, spielt sein Werk heute kaum noch eine Rolle. Auch begründete Bloch keine Denkschule, der heutige Philosophen zugeschrieben werden könnten. Mit dem Scheitern des realsozialistischen Versuchs gilt auch Blochs Utopie von der Aufhebung der Entfremdung in der klassenlosen Gesellschaft als zerplatzte Traumblase, und so geriet auch sein Nachdenken über die Hoffnung als Prinzip in Vergessenheit.

Allzu oft hatte bei diesem Enzyklopädisten menschlichen Weltverbesserungsstrebens der Enthusiasmus über die nüchterne politische Analyse gesiegt. Doch wer Bloch auf seine Irrtümer reduziert, verpasst einen originellen Denker, dessen Weltbeobachtungen mit einer eigenwilligen Mischung aus feuilletonistischer Raffinesse und expressionistischem Pathos formuliert sind und auch heute noch eine überraschende Sicht auf die Wirklichkeit ermöglichen.

Jedenfalls war Bloch ein Philosoph, der nicht ohne Konsequenzen bleiben wollte, sondern antrat, den Menschen in der Suche nach einer lebenswerteren Zukunft zu bestärken. Auch hat er sich selbst auf diese Suche begeben, Utopien verfolgt — und sich geirrt. So hat Ernst Bloch durch sein eigenes Leben Zeugnis gegeben vom Prinzip Hoffnung.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort