Interview mit Starfotograf Thomas Ruff "Fotografie ist größte Bewusstseinsveränderungsmaschine"

Düsseldorf · Thomas Ruff ist in seiner Klasse ein Star. Als Mensch ein Anti-Star. Still, eher introvertiert, und doch freundlich. Sehr ruhig, ja gelassen empfängt er in seinem großen lichten Düsseldorfer Atelier und lässt die Fragen über sich ergehen. Im Interview spricht er über Neugierde, die Kraft der Fotografie und die Entstehung der erfolgreichen "Nudes"-Reihe.

Herr Ruff, Sie werden unter der Marke Struffsky geführt, ein aus den Namen Gursky, Struth und Ruff gebildeter Begriff - passt das heute eigentlich noch, oder ärgert Sie das?

Ruff Früher hat mich das eher geärgert. Heute ist es egal. Es ist immer noch eine Marke, das dient der Vereinfachung. Zumindest mein Name ist komplett drin.

Hatten Sie während des Studiums bei Bernd und Hilla Becher etwas miteinander zu tun?

Ruff Mit Struth hatte ich keinen Kontakt, er studierte vor meiner Zeit. Andreas Gursky kam nach mir. Aber merkwürdig: Wir haben uns künstlerisch nicht untereinander ausgetauscht.

Sind Sie heute Freunde?

Ruff Man kann das schon Freundschaft nennen. Da gehören natürlich auch die anderen aus der Klasse zu.

Wie beschreiben Sie das, was Sie von den beiden anderen Fotokünstlern unterscheidet. Ist es die Heterogenität Ihres Werkes, oder auch der experimentelle Charakter Ihrer Arbeiten, den Sie am konsequentesten verfolgen?

Ruff Ich glaube, das trifft zu, denn ich entwickle immer neue Methoden, um die Fotografie voranzutreiben.

Schon die Bechers waren visuelle Forscher — fühlen Sie sich auch als solcher?

Ruff Man könnte sagen, dass ich der Forscheste bin. Ich versuche die Herstellungsweise zu variieren und Grammatik in die Fotografie mit einzubringen.

Wie stark ist Fotografie imstande, Zeit und Raum mi Hilfe von Momentaufnahmen zu speichern?

Ruff Ich bin kein theoretischer Künstler, sondern eher Praktiker. Ich habe eine gewisse Neugierde für Bilder, und die Neugierde treibt mich an. Ein Künstler muss ja nicht mit Worten formulieren, was er mit dem Bild sagen kann. Man sieht mit den Augen, nicht mit dem Hirn.

Ist die Fotografie in ihrer Aussagekraft bedroht durch die bewegten Medien?

Ruff Ein Foto ist und bleibt ein eingefrorener Augenblick. Doch auch die Malerei wurde auch schon totgesagt, und sie lebt immer noch - vergnügt.

Mit welcher Intention betreiben Sie Erinnerungsfotografie, wenn Sie Zeitungsfotos vergrößern oder in der Serie jpgs das kollektive Bildgedächtnis bearbeiten?

Ruff Für meine Porträts hatte ich eine Sammlung von Zeitungsausschnitten in eine Kiste gelegt. Dazu kamen andere Bilder in die Kiste, die ich nach zehn Jahren einmal geöffnet habe. Was ich feststellen musste: Ich hatte den Kontext verloren, das war ein interessantes Phänomen. Und viele Fotos waren durch redaktionelle Schnitte verstümmelt. Jetzt wollte ich sie gerne mal wieder zeigen, denn ich fand sie immer noch interessant. Ich habe sie wie künstlerische Fotografie behandelt, ein schönes Passepartout drum herum gemacht und sie ausgestellt.

Aber Sie haben sie verdoppelt?

Ruff Das Original verblasste sehr schnell, deshalb habe ich ein Repro gemacht, und um den Raster offensichtlicher zu machen, habe ich die Bilder verdoppelt. Es wurde dadurch auch offensichtlich, dass es sich um ein schon einmal gedrucktes Foto handelte. Der zweite Aspekt, der mich interessierte, war: Wie viel Information kann ich noch vermitteln, wenn sie aus dem Kontext herausgerissen ist? Bei einigen Bildern kann man anhand der Person den Kontext herstellen, aber bei sehr vielen Bildern geht das nicht. Woher sie kommen, warum sie abgebildet worden das fand ich interessant und wunderbar.

Wie kamen Sie darauf, Porträts zu machen?

Ruff In der Akademie habe ich damit angefangen um 1980. Habe eine Form gesucht, herumexperimentiert, zuerst schwarz-weiß, kleine Formate, 24 x 18. Dann passierte es immer wieder, dass ich bei Ausstellungen drauf angesprochen wurde. Die Leute verwechselten die Fotografie mit der Wirklichkeit, sie sagten, der oder die ist auch da. Dann habe ich Vergrößerungen gemacht, in dem Umfang, was sich ein Student sich leisten konnte. Erst als ich die Möglichkeit hatte, mal auf 160 x 250 zu gehen, ist etwas Verrücktes passiert. Es gab ein komplett neues Bild, kein Blow up, sondern ein komplett neues physisches Gegenüber , und plötzlich haben die Leute gesagt: Boah, das ist aber ein großes Foto von Heinz. Da hat der Betrachter zum ersten Mal das Medium wahrgenommen und das Medium nicht mit der Wirklichkeit verwechselt. Das war sehr überraschend für sehr viele Leute. Das mit der Plattenkamera aufgenommene Porträt hatte die Präzision eines Gemäldes. Die Leute waren geschockt. Da passierte eine Sache: Fotografie war immer ein Nebenschauplatz gewesen. Wahrscheinlich landete sie im Bereich des Kupferstichkabinetts wegen der Größe der Abzüge. Damals kam das Bedürfnis auf, unsere Bilder auch mal größer zu bringen. Jeff Wall tat das auch, in der Mitte der 80er Jahre lag das Großformat vor - nur Katharina Sieverding hatte Mitte der 70er schon sehr große Selbstporträts vorweggenommen.

Wann fingen Sie damit an, Akte und Pornografie zu bearbeiten, die in der Serie "nudes" vorliegen?

Ruff Eine Freundin meinte, Thomas, willst du nicht mal Aktfotos machen? Erst habe ich das von mir gewiesen und dann sehr lange überlegt, wie ein Aktfoto von mir aussehen könnte. 97, 98 gab es die ersten Rechner, das Internet. Google noch nicht. Ich habe das Wort Aktfotografie eingetippt - so fing alles an. Da erschienen Bilder von Helmut Newton oder Peter Lindbergh, von Modefotografen, für meine Zwecke zu langweilig. Es war der typische heterosexuell geprägte Blick auf den weiblichen Körper. Das wollte ich nicht. Dann gab ich Sex und Porno ein, geriet auf Lockseiten und war ziemlich überrascht. Das waren schon andere Bilder, die ich dann in schlechter Auflösung runtergeladen habe, um mit ihnen herumzuspielen. Auch hier interessierte mich die Struktur von digitalen Bildern und habe mit Pixelverschiebung gearbeitet. Plötzlich hatte ich meine erste "Nude", eine Frau mit rotem Hintergrund, die mit einem Kegel masturbiert.

Hat Sie das erregt?

Ruff Ja natürlich. Ich habe mich gerne auf diesen Pages herumgetrieben. Meine Überlegung war: Zeitgenössische Aktfotografie musste härter sein, weil meine ganze bisherige Kunst war ja auch nicht für Kinder, sondern für ein intellektuelles, erwachsenes Publikum. Die nächste Überlegung war: Dass ich demokratischer sein wollte, versuchen, alle gängigen Sexualpraktiken und sexuellen Vorstellungen der Welt darzustellen.

Wie blicken Sie heute auf die Bilder?

Ruff Sie sind sehr schön — in München werden sie in einer Doppelreihe gehängt.

In mehr als 20 Jahren haben Sie so viel Verschiedenes erarbeitet - was verbindet das alles?

Ruff Ich stelle mir jedes Mal die Frage: Was ist Fotografie? Welche Darstellungsmöglichkeiten gibt es? Wie stark darf man einer Fotografie vertrauen? Wie gehen wir inzwischen mit Fotografie um? Als ich 1979 anfing, da waren wir noch in einer total analogen Welt, die Entwicklung zur digitalen Welt war ein Riesenschritt, und ich dachte, es wäre nur ein Werkzeug! In der Dunkelkammer konnte man zu Zeiten der Schwarzweißfotografie nicht viel machen, ein bisschen nachbelichten, nachwedeln. Farbe konnte man gar nicht selber entwickeln. Mit der Digitalfotografie hat man plötzlich den hellen Bildschirm. Kann Pixel hin und herschieben, Montagen machen, korrigieren. Der Computer ist die bessere Dunkelkammer. Und das Internet hat eine wahnsinnige Distribution.

Die Serie "Zycles" hat keine fotografische Referenz mehr. Wie kam es zu den Bildern, die wie mathematische Kurven aussehen?

Ruff Die Idee war, dass ich Fotos ohne Kamera herstellen wollte. Sehr viele Fotografen arbeiten nur noch mit Photoshop, das ist Software. Ich wollte ein Bild vorm Foto entwickeln, mithilfe von mathematischen Formeln herstellen. Übrigens sind die Substrate auch ohne Fotos entstanden sie sind am Computer überarbeitete, überschichtete Mangas.

Sie haben gesagt, die Fotografie sei die größte Bewusstseinsveränderungsmaschine, die auf den Menschen einwirkt. Glauben Sie das immer noch?

Ruff Ja natürlich.

Stärker als Worte?

Ruff Ja. Worte muss man ja verstehen. Mit Bildern kann man einfacher manipulieren als mit Sprache. Das bewegte Bild ist sehr stark aktiv, ich glaube, dass im Moment sogar Youtube die größte Bewusstseinsveränderungsmaschine ist.

Sie stellen Bilder her, die man so noch nicht gesehen hat. Wollen Sie das Sehen verändern?

Ruff Nein. Ich will nur das Bewusstsein fürs Sehen verändern. Dass die Leute aufmerksamer schauen und sich nicht einfach verführen lassen.

Obwohl das auch schön sein kann?

Ruff Stimmt.

Jede Ihrer Werkgruppen hat ein eigenes Sujet und eine eigene Technik. Ist Ihr künstlerisches Vorgehen stets konzeptionell?

Ruff Kann man so sagen.

Sind Sie ein wissenschaftsgetriebener Fotograf?

Ruff Nein.

Sie sagen, der Künstler soll nicht unterhalten....

Ruff Ja. Er soll aufklären und kontextualisieren.

Er soll aufklären?

Ruff Ja.

Überfordern Sie den Betrachter manchmal?

Ruff Nein.

Ihr Werk ist weder anekdotisch noch erzählerisch — wie viel Ästhetik kalkulieren Sie?

Ruff 100 Prozent.

Kunst soll zum Denken anregen, sagen Sie. Welches Denken meinen Sie?

Ruff Das selbstständige.

Annette Bosetti führte das Interview

(RP/felt/csr)
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