Philosophen (13) Hannah Arendt und das Böse

Düsseldorf (RP). Denkerin im Angesicht des Abgrunds: Hannah Arendt (1906–1975) versucht die Frage zu beantworten, wie im 20. Jahrhundert menschliches Zusammenleben möglich ist. Die Nazis treiben sie 1933 ins Exil. Ein Großteil ihrer Arbeit kreist um den Nationalsozialismus – Arendt ist eine leidenschaftliche Philosophin der Freiheit und des Widerspruchs.

Düsseldorf (RP). Denkerin im Angesicht des Abgrunds: Hannah Arendt (1906—1975) versucht die Frage zu beantworten, wie im 20. Jahrhundert menschliches Zusammenleben möglich ist. Die Nazis treiben sie 1933 ins Exil. Ein Großteil ihrer Arbeit kreist um den Nationalsozialismus — Arendt ist eine leidenschaftliche Philosophin der Freiheit und des Widerspruchs.

Das nervöse Zucken um den Mund ist das Einzige, was auffällt an dem Mann. In allem anderen ist der mittelgroße Mittfünfziger unscheinbar. Doch der Mann sitzt in einem Kasten aus schusssicherem Glas in einem Gerichtsgebäude in Jerusalem. Der Mann ist einer der größten Verbrecher des 20. Jahrhunderts. Der Mann ist Adolf Eichmann, der als SS-Offizier im Reichssicherheitshauptamt den Holocaust organisierte. Das Jahr ist 1961, Israel macht Eichmann den Prozess, nachdem der Geheimdienst ihn aus Argentinien entführt hat. Am Ende, ein Jahr später, das Urteil: Tod durch den Strang.

Unter den Zuschauern im Gerichtssaal ist Hannah Arendt. Für die Zeitschrift "The New Yorker" schreibt sie über den Prozess. Ihr Bericht ruft heftigen Widerspruch hervor, mehr noch: Er provoziert einen Skandal. Denn Hannah Arendt, Jüdin, aus Deutschland vor den Nazis geflohen, Philosophin und Publizistin, seit 1951 US-Bürgerin, beschreibt Eichmann nicht als den sadistischen Dämon, als der er von der Weltöffentlichkeit begafft wird. Adolf Eichmann ist für sie ein "Hanswurst", ein "Spießer", ein Ausbund des Mittelmaßes. Arendt nennt das nicht ohne grimmige Ironie die "Banalität des Bösen" — denn dieser Langweiler war während des Zweiten Weltkriegs verantwortlich für den Tod von Millionen Menschen.

Die Vorwürfe, die Hannah Arendt deswegen gemacht werden, sind zahlreich, und sie sind hart: Herzlos sei sie, hämisch schreibe sie, mit dem angeblich typischen jüdischen Selbsthass, weil sie auch die Rolle der Judenräte in den deutschen Ghettos kritisch hinterfragt, die — oft gezwungenermaßen — mit den Deutschen zusammenarbeiteten, mit ihren späteren Mördern. Der Eichmann-Text, der den ersten großen Eklat um die Aufarbeitung des Nationalsozialismus auslöst, ist typisch Arendt: gegen den Strich, ein einziges großes Widerwort, scharf im Ton, ohne ins Schrille zu kippen.

Hannah Arendt ist 54 Jahre alt, als der Prozess beginnt. Die erste Hälfte dieser Jahre hat sie in Deutschland verbracht, die zweite in Amerika. Geboren 1906 in Linden bei Hannover, wächst sie in Königsberg auf, als Kind wohlhabender, sozialdemokratisch gesinnter Eltern. Die jüdische Identität ist der Familie wichtig — ihre Eltern hätten sie "rechts und links geohrfeigt", wenn sie das jemals verleugnet hätte, sagt die Tochter später —, und von Anfang an wird Hannah so auch zum Widerspruch gezwungen: Wenn die Tochter von antisemitischen Lehrern verspottet wird, setzt die Mutter Protestbriefe auf, als Einschreiben; wenn die Beleidigungen von Kindern kommen, muss sich Hannah selbst wehren. Dadurch habe sie ihre Würde behalten, sagt Arendt später: "Wenn man als Jude angegriffen wird, muss man sich als Jude verteidigen."

Im Hause Arendt wächst ein ebenso extravagantes wie kluges Kind heran, das mit 14 schon Kants "Kritik der reinen Vernunft" verschlungen hat, das einen Schüler-Boykott gegen einen judenfeindlichen Lehrer organisiert und sich vom Griechisch-Unterricht befreien lässt, um in Ruhe frühstücken zu können. Mit 18 Jahren schreibt sie sich in Marburg ein, um Philosophie zu studieren — beim "heimlichen König im Reich des Denkens", wie sie später selbst schreibt, das heißt: bei Martin Heidegger.

Beide verbindet freilich bald mehr als geistige Nähe — in seinem Studierzimmer fällt Heidegger vor der Studentin auf die Knie, "und ich beugte mich nieder, und er streckte von unten aus den Knien heraus seine Arme zu mir empor, und ich nahm seinen Kopf in die Hände, und er küsste mich, ich küsste ihn". Damit beginnt eine eigentlich unfassbare Beziehung, die beide ein Leben lang aneinander fesselt.

Die Affäre halten beide geheim; Arendt verlässt Heidegger und geht nach Heidelberg, um bei Karl Jaspers über Augustinus zu promovieren — 1928, da ist sie 22. Gegen die Konvention ist auch, dass Arendt mit ihrem Verlobten Günther Stern schon vor der Hochzeit zusammenzieht. Während die deutsche Republik untergeht, forscht Hannah Arendt über die Geschichte des deutschen Judentums — und wird erstmals politisch tätig: Sie sammelt für die Zionistische Vereinigung judenfeindliche Hetzartikel.

"Die jüdische Assimilation scheint heute in Deutschland ihren Bankrott anmelden zu müssen", schreibt Arendt am 7. April 1933 in der "Jüdischen Rundschau". Seit neun Wochen ist Adolf Hitler Reichskanzler; sechs Tage zuvor haben die Nazis jüdische Geschäfte boykottieren lassen. Im Juli wird sie von der Gestapo für acht Tage festgenommen. Was Hannah Arendt schließlich ins Exil treibt, ist neben dem NS-Terror die Zerstörung ihres sozialen Umfelds. Selbst enge Freunde wie Heidegger wenden sich dem neuen Regime zu; andere, wie Jaspers, sind ihr zu unkritisch. Zudem ist ihre Ehe am Ende.

Sie geht nach Paris, wo sie für jüdische Organisationen arbeitet und sich fernzuhalten versucht von "irgendeiner intellektuellen Geschichte". 1940 heiratet sie Heinrich Blücher, Philosophie-Dozent und ehemaliger Kommunist. Als die Wehrmacht in Frankreich einrückt, werden beide in Internierungslager geschafft — mit gefälschten Papieren gelingt Arendt die Flucht; Blüchers Lager wird einfach aufgelöst. Über Lissabon gelangen beide 1941 nach New York. Mit all ihrer Intelligenz stürzt sie sich ins neue Leben: Als "irgend etwas zwischen einem Historiker und einem politischen Publizisten" beschreibt sie sich in dieser Zeit. Sie lernt die Sprache, schreibt für eine Emigrantenzeitung, arbeitet als Lektorin, fordert nach dem Krieg eine Zweistaatenlösung für Palästina.

Doch kreisen, wenig verwunderlich, Arendts Leben und Werk fortan vor allem um den Nationalsozialismus wie um ein Schwarzes Loch. Einen Tag habe es gegeben, nach dem nichts mehr so gewesen sei wie zuvor, sagt Arendt Jahrzehnte später: den Tag, irgendwann 1943, als sie von Auschwitz erfuhr. "Das ist der eigentliche Schock gewesen. Vorher hat man sich gesagt: Nun ja, man hat halt Feinde. Das ist doch ganz natürlich. Warum soll ein Volk keine Feinde haben? Aber dies ist anders gewesen. Das war wirklich, als ob der Abgrund sich öffnet. Dies hätte nie geschehen dürfen. Da ist irgend etwas passiert, womit wir alle nicht fertig wurden."

Als nicht zu bewältigen erweist sich auch die Beziehung zu Heidegger, der sich als Rektor von NS-Gnaden in Freiburg dem Regime an die Brust geworfen hat. Anfang 1950 trifft Arendt ihn erstmals wieder, in einem Hotel. Heidegger scheint zu ignorieren, was seit ihrer Trennung gewesen ist; Arendt aber kann sich nicht dazu durchringen, ihn mit seiner NS-Vergangenheit zu konfrontieren. Dennoch redet man — über Philosophie. Arendt zieht aus diesen Tagen die Anregungen für ihr Werk "Vita activa oder Vom tätigen Leben". Der Kontakt hält bis kurz vor beider Tod, ohne dass es eine Klärung in Sachen Nationalsozialismus gegeben hätte.

Gleichwohl: Man muss auch mit dem leben, womit man nicht fertig wird. Wie weiter mit, nach, trotz Auschwitz? Was bedeutet das für menschliches Miteinander, für Politik? Hannah Arendt wird sich den Rest ihres Lebens mit diesen Fragen beschäftigen. Erste und wichtigste Frucht dieser Beschäftigung ist 1951 das Werk "Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft". Arendt wagt es, nicht nur Gemeinsamkeiten zwischen Nationalsozialismus und Bolschewismus zu benennen, sondern auch zu konstatieren, die neuen Diktaturen hätten auf solider Unterstützung gefußt: "Totalitäre Bewegungen sind Massenbewegungen" — und ihre Führer, wäre zu ergänzen, nicht bloß Hampelmänner reaktionärer Strippenzieher, sondern auf eigene Rechnung handelnde Gestalten. Die Organisation der totalitären Bewegungen sei "von einer beispiellosen Originalität" gewesen. Das ist eine Provokation in einer Zeit, als nicht wenige den Nationalsozialismus als bloßen Rückfall ins finstere Mittelalter wegzuerklären versuchen.

Arendt gilt dadurch sozusagen gegen ihren Willen als erste Totalitarismus-Theoretikerin. Denn sie will keine abgeschlossene Theorie vorlegen, und sie will auch keine Munition liefern für die Instrumentalisierung des Begriffs "Totalitarismus" durch den Westen im Kalten Krieg — was dennoch geschieht.

Das Totalitarismus-Buch macht Arendt auf einen Schlag bekannt. Sie wird eine Vortragsreisende, schließlich eine Professorin — für Politische Theorie in Chicago, später für Sozialwissenschaft in New York. Hannah Arendt lässt Sympathien für die protestierenden US-Studenten und für ein demokratisches Rätesystem erkennen, befürwortet zivilen Ungehorsam und verteidigt diejenigen Revolutionen, in denen sich die Freiheit Bahn bricht. Bis zu ihrem Lebensende scheut sie die Hitze der politischen Debatte nicht.

Arendt hinterlässt kein Werk wie ein festgefügtes Gedankengebäude, eher wie eine Sammlung mehr oder weniger fein behauener Marmorblöcke. "Denken ohne Geländer" nennt sie selbst in einem grandiosen Bild ihr eigentümlich irritierendes Querliegen zu den geistigen Konventionen der Zeit.

Seit 1970 ist Hannah Arendt Witwe. Sie stirbt am 4. Dezember 1975 in New York vor den Augen ihrer Freunde in ihrem Arbeitszimmer an einem Herzinfarkt. Einige Tage später findet man in ihrer Schreibmaschine das Titelblatt für einen dritten Teil ihres Werks "Das Leben des Geistes". Darauf hat sie ein lateinisches Zitat des Dichters Lukan gesetzt: "Victrix causa diis placuit sed victa Catoni" — "Die siegreiche Sache gefällt den Göttern, doch die besiegte dem Cato".

Dieser Cato stellte sich gegen Julius Cäsar und fand sich deshalb schließlich unter den Verlierern des Römischen Bürgerkriegs wieder. Das wusste die klassisch geschulte Hannah Arendt selbstverständlich. Es ist schwer, in dem Satz keinen Verweis auf das 20. Jahrhundert zu sehen: Einige Jahre lang schien es, als sei in unserer Zeit die Freiheit die Sache des Cato, die dem Untergang geweiht ist.

Politik sei heute "fast ein Geschäft der Verzweiflung", schreibt Arendt 1948. Fast. Dass es anders kam, ist nicht zuletzt ihr Verdienst.

(RP)
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