Zwei Kapitel bereits online Jelinek stellt Roman ins Internet

Wien (RP). Nichts scheint für Elfriede Jelinek unerträglicher als die Vorstellung, als Roman- und Theater-Autorin eine öffentliche Person zu sein. Dem Geraune der Medien und der Neugier der Leser entzieht sich die österreichische Schriftstellerin seit Jahren konsequent.

Selbst zur Übergabe des Literaturnobelpreises erschien sie nicht persönlich, sondern nur vermittels einer Video-Botschaft. Was lag also näher, sich jeden Kontakt zu Verlegern, Leser und Kritikern ganz vom Halse zu schaffen und den Dialog zwischen Autorin und Öffentlichkeit in die virtuelle Welt zu verbannen?

Nur wer auf der Homepage www.elfriedejelinek.com den Abschnitt "Aktuelles" anklickt, findet die ersten beiden Kapitel eines neuen Textes, er trägt den Titel "Neid" und die Bezeichnung "Privatroman". Die bisherigen, am 3. März und am 7. April ins Netz gestellten 106 Seiten des Romans, der vielleicht bald, vielleicht auch nie weitergeschrieben und vollendet wird, sind umrahmt von Bildern des Malers Hieronymus Bosch. Es sind allegorische Darstellungen der "sieben Todsünden", zu denen auch der Neid gehört, sowie der "letzten Dinge": Das Auge Gottes sieht alles. Oder, behelfsweise, Elfriede Jelinek. Die Warnung der vermeintlichen Literaturgöttin lautet: "Sämtliche hier wiedergegebenen Texte sind urheberrechtlich geschützt und dürfen ohne ausdrückliche Erlaubnis in keiner Form wiedergegeben oder zitiert werden." Wer sich also nicht an die Spielregeln hält, den erwartet nicht der Himmel, sondern Tod, Gericht und Hölle. Versuchen wir es, mit aller gebotenen religiösen und juristischen Vorsicht, trotzdem.

Das können wir schon deshalb ohne Sorge vor einem gerichtlichen Nachspiel, weil der neue Text nur eine Variation alter Jelinek-Themen ist. Es geht also im bekannt monologischen Ton um zerstörte Bergwelten und den Terror des Tourismus, um die Massenverdummung des Sports und um Dörfer und Städte, die allesamt in der Globalisierungsfalle gefangen sind. Es geht um Fernsehkonsum und Hauseigentümer, Renten und Renditen, Bach-Sonaten und Mozart-Konzerte, Erinnerungslücken und Vergangenheitsverdrängung, um ehemalige Nazi-Größen und heutige Wirtschaftsbosse. Und um das Schreiben als Arbeit und Hobby. Der Text ist in mehrfacher Hinsicht eine Kopfgeburt: Gedanken und Schlagzeilen, Assoziationen und Lektürefrüchte rieseln, nein: nicht aufs Papier, sondern ins Internet, ohne je mit der Wirklichkeit in Berührung kommen zu müssen. Sie fallen mit Hilfe der Geigenlehrerin Brigitte K., deren Gatte sich mit seiner Sekretärin vergnügt, direkt und ohne doppelten Boden aus dem Kopf ins virtuelle Netz.

Eine ironische, ja beinahe selbstkritische Note erhält das beharrlich vor sich hin mäandernde Lamento durch eingeschobene Zwischenbemerkungen. Sie gleichen einem Zwiegespräch mit dem Leser, signalisieren ihm: Ich bin nicht ich und schon gar nicht die, für die du mich hältst. Sie sagen aber auch, unausgesprochen: Genauso wie du, wenn du keine Lust mehr zum Lesen hast, mir den Strom abstellen kannst, kann ich, wenn ich keine Lust mehr zum Schreiben habe, den Datenstrom versiegen lassen.

Aber was, bitteschön, ist daran neu? Immer schon hatte der Leser die Freiheit zur selbst bestimmten Beendigung der Lektüre, immer schon war die Autorin frei in ihrer Entscheidung, einen Text zu schreiben oder einfach stumm zu bleiben. Die Freiheit der virtuellen Welt wird zur digitalen Selbsttäuschung. Selbst die Absicht Elfriede Jelineks, sich als öffentliche Person zu verflüchtigen, wird durch das Buch, das kein Buch sein will, untergraben. Denn das Internet ist heute der denkbar öffentlichste Marktplatz der Eitelkeiten.

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