Landliebe gegen Stadtlust

Hinaus aufs Land oder lieber nach urbanen Idyllen suchen – das ist mehr als eine Wohnort-Entscheidung: Auf dem Land ist das Leben sinnlicher, beschaulicher, dafür gibt es in der Stadt mehr kulturelle Angebote und größere Vielfalt der Lebensentwürfe. Auch auf dem Buchmarkt wird der Wettstreit ausgetragen.

Sie hatte diesen Traum. Vom Leben in einem Haus mit Blick auf Weite aus allen Fenstern, mit Garten, Tieren, Einkoch-Orgien im Herbst. Mit Gummistiefeln vor der Tür. Darum zog die Autorin Hilal Sezgin vor vier Jahren von Frankfurt hinaus aufs Land, in ein Bauernhaus in der Lüneburger Heide. Das Leben in der Stadt hatte sie ohnehin nie als so gesellig empfunden, wie Städter immer behaupten. Sie ging selten ins Kino oder Theater. Und mit Freunden durch Cafés und Kneipen zu ziehen, kam seit Abschluss der Uni auch nur noch nach komplizierten Absprachen vor. Also beschloss die Frankfurterin, vom Bullerbü für ihr Leben nicht mehr nur zu träumen, sondern tatsächlich nach dem Fleckchen Erde zu suchen, das jenen heilen Orten ähnelt, von denen Astrid Lindgren in ihren Büchern so warmherzig erzählt. Und sie fand das ideale Bauernhaus, nicht zu abgelegen, aber mit freiem Blick. Und sie lebt ihren Traum. Mit einer Weide voller Schafe, mit Ziegen, Gänsen, Hühnern, Katzen. Mit viel Arbeit und wenig Zerstreuung. Mit Gespür für das, was zählt.

Wer rauszieht, kommt bei sich an.

Nichts würde Barbara Schaefer und Katja Trippel hinaus aufs Land befördern. Zumindest nicht für länger als ein Wochenende. Die Sehnsucht nach dem Leben in der Natur ist für die leidenschaftlichen Metropolenbewohnerinnen purer Eskapismus. Auch in der Stadt gibt es grüne Hinterhöfe und süße Erdbeeren vom Balkon. Dazu ein kulturelles Angebot, das den Geist frisch, und einen Mix von Herkünften, der das Denken tolerant hält. In der Stadt sind nicht zufällige Nachbarn die Bezugspersonen, sondern Freunde, die man sich aussucht und spannend findet. In der Stadt kann man Viertel erkunden, die sich ständig wandeln. Man kann sich bei jedem Gang über die Straße anregen lassen vom Stil der anderen. Man kann in alternative Wohnprojekte ziehen, auf dem Wochenmarkt Öko-Gemüse kaufen, durch den Stadtwald laufen, sich abends verwandeln und Tanzen gehen. In der Stadt kann man tun, was man will und entwickelt sich weiter.

Wer rauszieht, ist raus.

Landleben oder Stadtlust? Beide Konzepte werden in Büchern gerade heftig verteidigt. Denn natürlich ist es keine Schöner-Wohnen-Frage, wo man seine Zelte aufschlägt, sondern eine Lebensentscheidung. Die Umgebung gibt vor, welches Lebensgefühl ein Mensch entwickelt, sie reißt den Horizont auf – landschaftlich am Ende der Weiden oder geistig, wenn Menschen zum Straßenfest ihre Tische vor die Häuser schleppen, Nachbarn einander aus unterschiedlichen Lebenswelten erzählen. Das Sein bestimmt das Bewusstsein – wer sich je selbst dem Stadt-Land-Kontrast ausgesetzt hat, umzog, egal, in welche Richtung, wird das gespürt haben.

Auf dem Land ist der Mensch weniger vertäut im Netz der Kommunikationsmöglichkeiten, die modernes Leben organisieren. Er erfährt nur gefiltert von den nervösen Schwankungen der Moden, nur aus zweiter Hand von den gesellschaftlichen Diskursen, die Gegenwart zu begreifen versuchen. In der Stadt lebt der Mensch näher an der Zukunft.

Wo der Handy-Empfang nicht selbstverständlich ist, sind Ohr und Geist weniger bei den anderen, mehr beim Selbst, beim Naheliegenden. Auf dem Land ist das Leben greifbarer, sinnlicher, anstrengender – doch womöglich weniger ermüdend. Denn der Mensch muss nicht ständig auswählen zwischen Kulturangeboten, Ausgehoptionen, Selbstinszenierungen. Er wird weniger verleitet zu Flatterhaftigkeit, zum Multitasking, zum Überall-Dabeiseinwollen. Er kann sein Leben takten lassen von den Routinen, die ihm die Natur vorgibt: von den Aufgaben des Gartens, den Gesetzen der Jahreszeiten, dem Werden und Vergehen der Tage. Wer rauszieht, verlässt auch die Konsummaschinerie, die immer neue Bedürfnisse erfindet und den Menschen einzutrichtern versucht. Wer rauszieht, blickt auf Wälder statt Plakatwände.

Und doch ist die Stadt ein feinnerviger Impulsgeber, den man lieben kann. Dort herrscht soziale Abwechslung, ist auch abends immer noch ein Kiosk geöffnet, findet sich eine Gruppe für jeden erdenklichen Sport, jedes kreative Hobby. Und natürlich ist der eigene Kiez für viele Städter bald ein Dorfersatz mit Stammkneipe, Tante-Emma-Laden, Lieblingsfriseur. "Die Großstädter bauen sich ihre eigenen intimen City-Villages, und so sind die Metropolen zu den vielleicht letzten Orten geworden, an denen das deutsche Landleben noch intakt ist", hat der Journalist Axel Brüggemann geschrieben, nachdem er in das Dorf seiner Kindheit zurückzog – und tief im Landfrust versank.

Viele Deutsche versuchen es daher mit dem Mittelweg: Immer mehr Menschen zieht es in mittelgroße Städte und die sogenannten Speckgürtel großer Ballungszentren. Nur noch gut jeder Sechste lebte Ende 2003 in ländlichen Gebieten, das sind 15,4 Prozent der deutschen Gesamteinwohnerzahl. 1994 hatte der Anteil der ländlichen Bevölkerung noch bei 18,7 Prozent gelegen. Dagegen nahm der Anteil derjenigen, die in halbstädtischen oder mitteldicht besiedelten Gebieten wohnten, auf 35,8 Prozent zu. Viele Menschen schätzen die Angebote der Stadt, wollen teilhaben an Kultur und Freizeitangeboten und möglichst wenig Zeit in Pendlerstaus vergeuden. Darum entstehen in den Städten diese Hinterhof-Idyllen und Wohnungskomplexe mit verschachtelten Dachterrassen und Vorortsiedlungen mit Spielstraßen.

Hilal Sezgin hat diese urbane Idylle nicht mehr genügt, denn es ging ihr nicht nur um ein bisschen Grün vor der Nase, sondern um den anderen Lebensrhythmus, die anderen Anforderungen, die andere Konzentriertheit des Landlebens. Mit Mitte 30 ist sie von Frankfurt, wo sie nahezu ihr gesamtes Leben verbrachte, hinaus aufs Land gezogen, um eine Saite in sich anzuschlagen, die schon leise in ihr schwang. Sie tat das ohne lange abzuwägen, mit ein paar Astrid-Lindgren-Romantismen im Kopf, und doch so viel Nüchternheit zu wissen, dass es in der modernen Welt kein Zurück zur Natur mehr gibt. Denn natürlich ist ein Ortswechsel keine Zeitreise. Auch auf dem Land müssen die Menschen modernen Anforderungen genügen, gehen Ehen in die Brüche, begehren Jugendliche auf, steigt der Leistungsdruck, ist Flexibilität verlangt. Aber es gibt das Andere: Den Blick auf Bäume, die tief verwurzelt sind, auf Kreaturen, die nicht sähen, nicht ernten und doch vor dem blauen Himmel ihre Kreise ziehen.

Wie Hilal Sezgin in ihrem Buch "Landleben" von ihrem Auszug berichtet, so behutsam und schwärmerisch, das weckt Sehnsucht nach Klarheit, nach wohltuender Reduktion. Das Leben auf dem Land decke etwas auf, bringe etwas wieder in Bewegung, das eben auch Teil des menschlichen Wesens sei; dessen Entfaltung den meisten von uns wohltue, vermutlich sogar unersetzlich sei, schreibt die Autorin.

Und genauso wird man Barbara Schaefer und Katja Trippel zustimmen können, wenn sie in ihrem Buch "Stadtlust" fröhlich bekennen, Landliebe sei ihnen als Joghurt genug und beschreiben, dass sie in der Stadtluft freier atmen, unkonventioneller leben, sich in jeder Richtung ausprobieren können.

Landliebe gegen Stadtlust – dieser Wettstreit ist objektiv nicht zu entscheiden. Nur subjektiv. Und wer keine Wahl hat, kann von Stadt- und Landfluchten immerhin lesen – und träumen, wie das andere Leben wohl wäre.

(RP)
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