Düsseldorf Lasst uns unnütze Zeit verbringen!

Düsseldorf · Der Neoliberalismus in digitaler Zeit macht Menschen zu Selbstausbeutern und -entblößern, warnt ein Philosoph. Und erntet Kritik.

Irgendwann haben die Proletarier aller Länder aufgehört, sich als Ausgebeutete zu fühlen. Sie arbeiteten nicht mehr in schmutzigen Fabriken, ihre Kinder starben nicht mehr an Tuberkulose, und es gab keine Vorarbeiter mehr, die sie mit Gewalt zur Arbeit zwangen. Stattdessen: Selbstverantwortung. In der modernen Leistungsgesellschaft ist jeder sein eigener Unternehmer - und damit auch Ausbeuter seiner selbst.

Auch deswegen hat sich nach Meinung des Berliner Philosophen Byung-Chul Han der Klassenkampf erledigt: "Das neoliberale Regime verwandelt die Fremdausbeutung in die Selbstausbeutung, von der alle Klassen betroffen sind", schreibt er in seinem neuen Essayband "Psychopolitik". "Wer in der neoliberalen Leistungsgesellschaft scheitert, macht sich selbst dafür verantwortlich und schämt sich, statt die Gesellschaft oder das System in Frage zu stellen." Darum werden die Ausgebeuteten von heute keine Revolutionäre, sondern depressiv, so Hans Diagnose.

Der Professor hat sich schon früher mit der "Müdigkeitsgesellschaft" beschäftigt, mit Burn-out und Depression als Folgen des Leistungs- und Selbstoptimierungsdrucks, den sich Menschen machen, weil sie auf die unsichtbaren Zwänge des Systems, auf die Konkurrenz auf liberalisierten Märkten reagieren.

Doch Selbstausbeutung ist nur ein Effekt des Kapitalismus heutiger Gestalt. Ein anderer ist die Selbstentblößung, der Drang vieler Menschen, im Internet Lebenszeichen zu hinterlassen und mit jedem Einkauf die Datengrundlage zur Erfassung ihrer Träume und Bedürfnisse zu liefern. Die Vorteile der einfachen Kommunikation etwa in sozialen Netzwerken locken sie, mehr von sich preiszugeben, als ihnen lieb sein kann - und die Nachteile bemerken sie nicht einmal.

Wie viele Konsumkritiker glaubt Han, dass das Internet bisher als Medium der Freiheit missverstanden worden ist. In Wirklichkeit schlage die grenzenlose Freiheit der Kommunikation um in totale Kontrolle - ohne, dass das den Nutzern bewusst würde. Heute würden Menschen nicht mehr durch Gewalt und Strafen gefügig gemacht, sondern verführt. Han spricht von einer "smarten, freundlichen Macht", die den Willen der Konsumenten zu ihren eigenen Gunsten manipuliere, diese Macht sei eher "jasagend als neinsagend, eher seduktiv als repressiv. Sie ist bemüht, positive Emotionen hervorzurufen und sie auszubeuten".

Aus Big Brother ist Big Data geworden, nicht der Überwachungsstaat bedroht die Selbstbestimmung des Bürgers, sondern die Algorithmenberechnungen der Internetkonzerne, die das Kaufverhalten ihrer Kunden steuern wollen und am Ende bestimmen, wie sie leben.

Um sich zu wehren müsste der zum Konsumenten degenerierte Bürger durchschauen, dass ihm Freiheit genommen wird, oder wie Han formuliert: dass er nicht mehr, "die freie Wahl" hat, sondern nur noch "freie Auswahl zwischen Angeboten". Doch selbst aufgeklärte Kunden können kaum vermeiden, dass Unternehmen Profile erstellen, mit anderen Daten koppeln und aus Menschen Konsumenten mit vorhersagbarem Verhalten machen.

Internet-Experten wie Christoph Meinel, Direktor des Hassno-Plattner-Instituts in Potsdam, das vom gleichnamigen SAP-Gründer finanziert wird, sehen diese Analyse kritisch. "Es hilft nicht weiter, Internetkonzerne als Ausbeuter zu verteufeln", sagt Meinel, "es war sicher ein Unglück in der digitalen Geschichte, dass Suchmaschinen wie Google werbefinanziert so erfolgreich geworden sind. Hätte jede Abfrage etwas gekostet, hätten die Nutzer von Anfang an verstanden, dass Daten einen Wert haben, dass sie der Rohstoff des digitalen Zeitalters sind." Meinel glaubt, dass die Menschheit mit der digitalen Wende komplettes Neuland betritt und dass es noch mehrere Generationen braucht, bis sie sich darauf wirklich eingestellt habe. "Wir werden uns nationaler, wie international auf rechtliche Regularien einigen müssen, die Techniker müssen an brauchbaren Sicherheitstechniken arbeiten, vor allem aber muss der einzelne lernen, mit den eigenen Daten verantwortlich umzugehen", sagt Christoph Meinel. Konzerne könnten Konsumenten nur ausbeuten, wenn die auch selbst mitspielten. "Wir müssen lernen, sehr viel strenger zu überlegen, wie viele Daten wir für eine digitale Dienstleistung hergeben, ob sie wirklich wert ist, was sie von mir verlangt", sagt der Informatiker.

Dem Philosophen Han geht es allerdings um den Wertewandel, der sich weitgehend unbemerkt vollzieht, wenn Menschen nur noch als Konsumenten behandelt werden - und sich am Ende selbst so verstehen. Han fürchtet, dass "Totalvernetzung" und "Totalkommunikation" den Konformitätszwang erhöhen und der Mensch die Wertschätzung für Innerlichkeit, Vertrauen, das zweckfreie Zusammensein mit anderen verliert. Das aber macht den Menschen zum Menschen, das entreißt ihn der Logik jener "smarten Mächte", die Han zufolge den Leuten einreden, Luxus sei die Freiheit zu exzessivem Konsum. Dabei sei Luxus doch die Freiheit von Notwendigkeit.

In diesen unschuldigen Zustand der Selbstvergessenheit können Kinder geraten, wenn sie im Spiel ganz in einer Rolle aufgehen. Sie können dann sogar auf die Idee kommen, Geld zu zerschnibbeln, wie Han schildert, weil der Fetisch der Erwachsenen für sie nur buntes Papier ist. Auch der Idiot ist für den Berliner Philosophen eine subversive Figur, weil auch er sich der Logik der Leistung, der Konkurrenz, des Konsums entzieht, "den Zauber des Außenseiters rettet".

Kinder und Idioten - bei den naivsten, ohnmächtigsten Gliedern der Gesellschaft sieht Han am Ende das Potenzial, dem Einfluss von Big Data zu entkommen. Für den Rest der Gesellschaft ist das wenig ermutigend.

(RP)
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