Hamm Leben im Hospiz

Hamm · Eine Frau begleitet ihren schwerkranken Mann ins Hospiz, um die letzten gemeinsamen Tage in diesem Schutzraum zu verbringen - es werden zehn Wochen voller Leben.

Als der Wagen vorfährt, verlässt Klaus Hagenschneider sein Zuhause ohne zurückzuschauen. Kein letzter Blick in den Garten, keiner ins Wohnzimmer oder in die anderen Räume, die seine Spuren tragen. Dabei weiß Klaus Hagenschneider an diesem Morgen im September, dass er all das nicht wiedersehen wird. Dass er dabei ist, die Hülle seines bisherigen Lebens abzustreifen, seine Wurzeln in den Alltag, die Unbefangenheit scheinbar endloser Zeit, zu kappen. Er weiß bei diesen Schritten aus seinem Haus, dass er nicht zurückkehren wird, denn der Wagen bringt ihn ins Hospiz.

Seine Frau hat dieser Abschied irritiert. Diese Gefasstheit. Dieser Wille, die Kontrolle zu bewahren. Sie selbst war an diesem Morgen in Aufruhr, ihre Angst verwandelte sich in Hektik, in Abmühen mit dem Vordergründigen: Handwerkern absagen, Nachbarn Bescheid geben, es ging nun alles zu schnell. Dabei waren sich Maria Hagenschneider und ihr Mann einig gewesen, dass sie im Hospiz voneinander Abschied nehmen wollten, dass dies für sie der rechte Ort sein würde. "Je schlechter es meinen Mann ging, desto mehr erschien mir das Hospiz wie das Gelobte Land, in das wir uns retten würden", sagt sie. "Ich wusste, dass ich alle medizinische Verantwortung abgeben könnte, dass wir dort einfach sein dürften." Und so zog sie mit ihrem Mann in das Hospiz ihrer Heimatstadt Hamm, als der Palliativmediziner es für geraten hielt. Die letzten Tage wollten sie in diesem Schutzraum verbringen - es wurden zehn Wochen. "Tage voller Leben", sagt Hagenschneider.

Seit Mitte der 1980er Jahre gibt es in Deutschland Hospize - Herbergen für Menschen, die sterben werden. Im Prinzip sind das kleine Palliativ-Krankenhäuser, nur fühlt es sich vor Ort ganz anders an: Die Häuser sind wohnlich gestaltet, aufgenommen werden nur wenige Patienten, den Tagesablauf bestimmen sie. Im Hospiz in Hamm gibt es eine Gemeinschaftsküche, ein Wohnzimmer, einen Wintergarten mit Klavier, einen hübschen Innenhof. So lange sie können, sollen die Patienten sich in einem Umfeld bewegen, das Geborgenheit bieten kann. Ein letztes Zuhause.

Maria Hagenschneider ist an diesem Morgen in das Haus zurückgekehrt, in dem sie ihren Mann gehen lassen musste. Für sie ist das keine Qual. Eher eine Gelegenheit, zurückzufinden in das Gefühl jener zehn Wochen des Sterbens, in denen sie so intensiv mit ihrem Mann gelebt hat. "Fast wie in Flitterwochen", sagt sie einmal.

Klaus Hagenschneider (63) lebte auf, als er ins Hospiz ging. Unter ständiger Aufsicht konnten seine Medikamente neu eingestellt werden, nach langer Krebserkrankung kehrte ein wenig Kraft in seinen Körper zurück, neue Wachheit und ein bisschen Appetit. Er nahm wieder Anteil am Leben, konnte sogar Besuch empfangen. "Wir hatten einen roten Sessel im Zimmer, darin hat er gesessen und mit guten Freunden erzählt", sagt Maria Hagenschneider. "Er hat sich in diesen Stunden wieder gefühlt wie früher. Er konnte er selbst sein, das war ein Geschenk - auch für mich." Klaus Hagenschneider war katholischer Theologe, arbeitete zehn Jahre als Priester. Als er seine Frau kennenlernte, die damals als Religionspädagogin tätig war, schied er aus dem Kirchendienst aus, wurde Gefängnispsychologe. Mit Menschen zu sprechen, sich intensiv auszutauschen, war in seinem Leben stets wichtig gewesen. Im Hospiz konnte es auch Teil seiner letzten Tage sein.

Intensiv hat er in den Wochen im Hospiz seine Beerdigung vorbereitet, Texte ausgesucht, den Ablauf bestimmt. "Darüber zu reden, auch über die theologischen Fragen, vor die einen der Tod stellt, hat uns gutgetan", sagt Maria Hagenschneider, "mein Mann hatte genaue Vorstellungen davon, wie wir die Trauerfeier gestalten sollten. Alle Fragen der Bestattung danach hat er mir überlassen, das empfand er nicht mehr als seine Sache."

Über die Beerdigung zu sprechen, hat den Hagenschneiders geholfen, die Wahrheit des Sterbens an sich heranzulassen. Sie waren im Hospiz so warmherzig aufgenommen worden und es war ihnen so gut ergangen, dass der Tod selbst an diesem Ort zunächst fern schien, eine abstrakte Wahrheit, eine Realität des Verstandes, nicht des Gefühls.

Doch dann wurde der Tod in einem der Nachbarzimmer Gewissheit: Die Hagenschneiders hatten an den Nachmittagen im Wintergarten ein anderes Paar kennengelernt, sich gut unterhalten. Eines Morgens brannte am Eingang des Hospizes die Kerze, wie immer, wenn ein Gast gestorben ist, und der Name des Mannes stand auf einem Stein daneben. "Für uns war das ein Schock", sagt Maria Hagenschneider, "aber wir wollten uns verabschieden, auch meinem Mann war das ein Bedürfnis." Sie gingen zu dem Toten in das Nachbarzimmer. "Das waren sehr schwere Momente", sagt Maria Hagenschneider, "da wurde uns beiden ganz klar, warum wir an diesem Ort waren."

Maria Hagenschneider hat im Hospiz gelernt, dem Tod nicht mehr auszuweichen. Sie hat gelernt, die Gewissheit auszuhalten, dass die gemeinsame Zeit mit ihrem Mann dort enden würde. Manchmal war das kaum zu ertragen. Sie hat sich dann zurückgezogen, Zeit im Raum der Stille verbracht. Manchmal war sie einfach nur erschöpft. "Dann habe ich zum Beispiel ein Bad genommen", erzählt sie, "das haben die Pflegerinnen besonders schön gestaltet, mit Kerzen, Düften, Musik." Manchmal hat sie auch Freundinnen getroffen, abends im Wohnzimmer, auf ein Glas Wein. "Je länger ich im Hospiz gewohnt habe, desto mehr habe ich auch gespürt, dass ich leben wollte", sagt Maria Hagenschneider, "und es war sehr schwer, mir das zuzugestehen." Das Leben im Hospiz erschien ihr wacher, intensiver, voller Behutsamkeit und Fürsorge. Leben in einer besseren Welt. Doch zugleich wuchs in ihr die Sehnsucht nach der Selbstverständlichkeit des Alltags. "Ich spürte den Wunsch, das Hospiz zu verlassen und zugleich wusste ich, dass ich das nur ohne meinen Mann tun würde."

Wenn Maria Hagenschneider heute die Augen schließt, sieht sie diese Szene: Ihr Mann liegt im Bett, sie sitzt ihm gegenüber am Fußende, die Beine auf das Bett gestreckt, seine Hand ruht auf ihren Beinen. "Wir haben im Hospiz noch einmal unglaubliche Nähe erlebt. Wir haben viel miteinander gesprochen, gelacht, gerungen - ich bin dankbar für diese Zeit."

Der Zusammenbruch kam nach acht Wochen. Klaus Hagenschneider konnte das Bett nicht mehr verlassen, wurde schwächer, die Pflege schwieriger. Zwei Wochen später brannte die Kerze am Eingang für ihn.

Den Stein mit dem Namen ihres Mannes hat Maria Hagenschneider mit nach Hause genommen. Er liegt jetzt in einem der Zimmer, die Klaus Hagenschneider verlassen hat, ohne zurückzublicken. Manchmal nimmt Maria Hagenschneider den Kiesel in die Hand, spürt das Gewicht, die Kälte, spürt die Abwesenheit ihres Mannes. Doch wenn sie am Hospiz vorbeifährt, schmerzt sie das nicht. Es ist der Ort, an dem ihr Mann gestorben ist. Aber viel mehr der Ort, an dem sie zuletzt mit ihm gelebt hat.

(dok)
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