Ein Blick auf das soziale Gefüge Das Leben in der Abstiegsgesellschaft

Düsseldorf · Lange hat die Aussicht auf sozialen Aufstieg die Gesellschaft beflügelt. Doch inzwischen bangen viele Menschen um ihre soziale Sicherheit, wollen ihren Status verteidigen und grenzen sich ab - mit Folgen für das gesellschaftliche Klima.

 Viele Menschen empfinden ihr Leben als Kampf und fürchten auf die "Rolltreppe abwärts" zu geraten - unabhängig vom Grad ihres Wohlstands.

Viele Menschen empfinden ihr Leben als Kampf und fürchten auf die "Rolltreppe abwärts" zu geraten - unabhängig vom Grad ihres Wohlstands.

Foto: dpa

Es fällt schwer, dieses Jahr mit einem Gefühl von Zufriedenheit und satter Wehmut zu beschließen. Auch wenn es in den Innenstädten nun wieder wohlig nach Glühwein duftet, das Geschäft brummt und das Alle-Jahre-wieder-Gefühl die Gemüter vorläufig beruhigt. Dafür ist der Eindruck zu stark, dass es rumort in Deutschland, dass da schleichende Benachteiligung von Menschen lange verdrängt wurde und nun rigoroser, unversöhnlicher zu Tage tritt - als stille Wut, Häme, Hass.

Also ist mit Blick auf die Wahlen im kommenden Jahr zu fragen, woher all die unterdrückte Enttäuschung kommt, die den Ton in politischen Debatten verändert und die Zeit mit dieser diffusen Stimmung grundiert, dass etwas im sozialen Miteinander nicht mehr funktioniert. Dass da etwas faul ist.

Es sind in diesem Jahr durchaus erhellende Analysen erschienen, die erklären helfen, warum trotz guter Wirtschaftsdaten so viel von Abgehängten die Rede ist. Heinz Budes Erkundung des Überdrusses als kollektives Lebensgefühl etwa. Oder Oliver Nachtweys Beschreibung der "Abstiegsgesellschaft". Es zeichnet sich in diesen Analysen ab, dass sich jenseits konjunktureller Aufs und Abs ein grundsätzlicher Wandel ereignet hat: Das Vertrauen in sozialen Aufstieg, Generation um Generation ist gebrochen. Zwar gibt es Wachstum, doch glauben immer mehr Menschen, dass sie davon nicht profitieren werden. Oder zumindest nicht so, wie "die da oben", die sich absondern, nur noch in ihren Kreisen verkehren.

Der Klassenkampf ist noch nicht vorbei

Die soziale Frage, so scheint es, hat sich keineswegs erledigt, der Klassenkampf ist nicht vorbei, auch wenn diese Worte überkommen wirken und es kein Klassenbewusstsein mehr gibt, weil eine Gruppe wie etwa die Minijobber äußerst heterogen besetzt ist. Heute geht es nicht mehr um sonnige Ziele wie die 35-Stunden-Woche, sondern um existenzielle Ressourcen wie soziale Sicherheit. Um ein wenig Verbindlichkeit in Arbeitsverhältnissen. Um ein bisschen Planbarkeit des Lebens. Und der Verteilungskampf geht quer durch alle Schichten.

Längst treten also nicht mehr "die Arbeiter" gegen "die Kapitalisten" an. Doch natürlich gibt es weiterhin Menschen, die besitzen, die erben, die ein Polster im Rücken haben, das sie vor der Abstiegsdrohung schützt. Und solche, die nur sich selbst vermarkten können, deren Familien über keine Kontakte verfügen und die in einen Konkurrenzkampf geraten, in dem es viel zu verlieren gibt. Immer weniger Menschen bekommen noch unbefristete Arbeitsverträge mit Kündigungsschutz. "Hartz IV" mit seinen kürzeren Bezugszeiten für Arbeitslosengeld hat das Tempo auf der "Rolltreppe abwärts" beschleunigt. Das steigert die Angst, darauf zu geraten. Und die Wut auf jene, die darüber nicht nachdenken müssen.

Zugleich haben die meisten Menschen die moderne Lektion verinnerlicht, dass es ihre eigene Sache ist, wie weit sie kommen und wie gut sie abgesichert sind. Es sind in den vergangenen Jahrzehnten ja nicht nur staatliche Unternehmen wie die Post privatisiert worden, sondern auch die Verantwortung für die eigene soziale Lage. Allerdings merken immer mehr Menschen, dass sie ihre Geschicke doch nicht selbst in der Hand haben, dass Bildung und Leistungswille allein noch gar nichts garantieren und dass die, die es zu ein bisschen Eigentum und Ansehen gebracht haben, alles dafür tun, diesen Status für sich und ihre Familie zu verteidigen.

Die schicken ihre Kinder dann auf die Privatschule mit geringem Ausländeranteil, ziehen in die gentrifizierten Viertel, konsumieren mit Statusbewusstsein. Bloß nicht mit denen verwechselt werden, die von unten nachdrängen. So schließen sich die Luken zwischen den sozialen Klassen, von denen niemand mehr reden mag.

Dass solche Abgrenzungskonflikte an Schärfe gewonnen haben und immer mehr Menschen mit ohnmächtiger Wut im Leib zurücklassen, hat auch damit zutun, dass eine Zeit der "regressiven Moderne" angebrochen ist, in der nicht mehr Aufstiegsversprechen, sondern Statuserhalt gesellschaftliche Dynamik entfalten. Vieles von dem, was früher den Stolz der Bürger genährt hat - der Bau von Theatern, Volkshochschulen, Schwimmbädern, Sportplätzen - wird heute abgewickelt. Das verändert nicht nur das kulturelle Klima in den Städten, sondern hat auch einen psychologischen Effekt: Selbst Menschen, denen es subjektiv gut geht, beschleicht das Gefühl, dass die Zukunft düsterer aussehen wird, dass es also gilt, die eigenen Pfründe zu retten. Das macht ungnädig gegenüber Schwächeren, Ärmeren, Geflüchteten, die noch mehr Zuwendung nötig haben könnten als man selbst.

Die Menschen wollen ihre eigenen Pfründe retten

Mit einer kulturgeschichtlichen Betrachtung der Unruhe hat auch ein Philosoph in diesem Jahr den nervösen Impuls der Gegenwart aufgegriffen. In "Die Unruhe der Welt" zeigt Ralf Konersmann, wie die Ruhelosigkeit selbst zum Versprechen wird, wenn niemand mehr an allmählich wachsenden Wohlstand glaubt. Das "Schwelgen in Möglichkeiten", die Sucht nach dem immer Neuen ersetzt das gemächlichere Vertrauen in Fortschritt. Doch die Gier nach Neuheiten am Markt erzeugt Verpassensangst, Neid, Missgunst.

Konersmann glaubt, dass Vorwärtsdrängen aus Überdruss niemals Gutes hervorbringt. Dass der Mensch sich vielmehr aus einer Haltung der Zufriedenheit in die Unruhe stürzen sollte, um positive Dynamiken anzustoßen. Eine Diagnose, die kaum versöhnlich stimmen kann. Denn wer um seine soziale Sicherheit bangt, dem mangelt es ja gerade an innerer Ruhe. Im Abstiegskampf sind Gelassenheit und Menschlichkeit schnell verbraucht.

(dok)
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