Konzertpianist Lebensretter Klavier

London · Der englische Pianist James Rhodes hat den Weg vom Missbrauchsopfer zu einem international anerkannten Konzertpianisten geschafft. Die großen Klassiker waren seine Nothelfer. Jetzt redet er - auch bei der Lit.cologne.

Dieser Autor will nur spielen, das allein hält ihn am Leben. Gern schreibt er fiese Wörter, die mit A anfangen, doch weniger, weil er bei den großen Bösen der Literatur unterkommen möchte. In der Rolle des literarischen "bad boy" gibt es bessere, das ahnt er. Nein, die Kraft- und Fäkalsprache ist nicht Ausdruck der Unreife, sondern des Schmerzes und der Wut. Dieser Zorn ist authentisch.

Als Kind in der Schule wurde James Rhodes (40), der von Platten, Videos, Filmen, BBC-Dokumentationen und Internet-Auftritten international bekannte englische Pianist und Fernsehmoderator, von seinem Sportlehrer über Jahre missbraucht; niemand hat es gemerkt oder wahrhaben wollen, der Autor bewahrte es aus Scham wie sein unsagbar schmutziges Geheimnis, das sich nicht von der Seele waschen ließ. Es führte dazu, dass Rhodes über viele Jahre die Hölle dem Himmel vorzog, sich ritzte, mit Drogen und Tabletten volldröhnte, sich übergab, Selbstmordanleitungen studierte, aus Anstalten floh, Beziehungen zerstörte - und nicht anders konnte. Sein Leben war eine Lok, die auf den Abgrund zusteuerte, und in Rhodes' Hirn schien das Bremsversagen programmiert.

Aber Rhodes hatte Glück, denn es gab eine geheime Instanz, die im Stellwerk seines Lebens die Weichen umlenkte. Es war der Kontakt zur klassischen Musik mit den Giganten Bach, Beethoven, Mozart, Schubert, Schumann, Brahms, Chopin, Bruckner. Sie spenden ihm nicht nur den größten Trost, sondern sind Brüder im Geiste. Bei ihnen fühlt Rhodes sich wohl, er ist dann nicht allein, er kann seine Dämonen mit anderen teilen. Andererseits zwingen ihn die Klassiker, das dumpfe Vegetieren gegen Disziplin einzutauschen. Vor Wolfgang Amadeus Mozart und Frédéric Chopin ist er ein Niemand, wenn er schlampig übt und sich nicht unterwirft.

Dass einer mit 40 Jahren eine Autobiografie vorlegt, hat auch ein bisschen mit erlebter Todesnähe zu tun. Rhodes ist dem Tod von der Schippe gesprungen und möchte seine Prognose für ein glücklicheres weiteres Leben herausposaunen und jedem von seinen einzigartigen Nothelfern berichten. "Der Klang der Wut" hat als Titel des Buchs somit mehrere Dimensionen. Der Titel deutet die Wirkmacht jener Schändungen an, die Rhodes erlitt und an deren Folgen er wie "ein Bündel aus Ticks und Bettnässen" vielleicht lebenslang leiden wird. Er benennt die heilende Kraft der Musik, die ihn und seine Schreie besänftigte, aufrichtete, animierte, forderte - mit seinen eigenen Worten: "die mich am Leben hielt".

Der Titel mündet auch in ein Manifest für eine Demokratisierung der klassischen Musikwelt, gegen Schubladendenken und elitäre Gesinnung. Und nicht zuletzt steht der Titel für viele Komponisten, denen Musik die einzige Möglichkeit bot, ihr Ich und ihr Genie zu beglaubigen. Rhodes möchte, dass alle Welt kapiert, dass die Klassiker die Popstars von damals waren; dass sie psychische Defekte aufwiesen, randalierten, sich betäubten und übrigens ziemlich oft zahlungs- und beziehungsunfähig waren.

Nun, aus seiner Schulzeit ging Rhodes als mittelmäßiger Klavierspieler hervor, der bloß mäßig komplexe Literatur wie Richard Claydermans "Ballade pour Adeline" auf die Reihe bekam. Nach seinen diversen Klinikaufenthalten brachte er aber - auch dank großartiger Lehrer - ein System in sein Üben und Spielen und investierte ein Vielfaches an Übezeit. Er war jetzt Ende 20, fand einen hingebungsvollen Manager, ein paar gewogene Sponsoren und viele Freunde, die ihn förderten.

Und als er sein erstes Klavieralbum herausbrachte, wurde es vom Marketing beworben wie der Laut eines gefallenen Engels, der mit Musik wieder zum Himmel flog. Hört man sich aktuell Rhodes' Aufnahmen auf CD und im Internet an, darf man zweifelsfrei konstatieren: Er ist ein meisterhafter Pianist. Bei seinen Chopin-Etüden vernimmt man Tiefgang, Brillanz und die Kunst, auch in den Mittelstimmen nach Sensationen zu forschen. Sein Bach ist gläsern, unverkennbar hockt der legendäre Glenn Gould als Idol im Hintergrund. Und die Komponisten erscheinen uns in seinem Spiel als die großen Meister, die dem Pianisten die Hand auf die zitternde Schulter legen, ihm Noten hinstellen und soufflieren: Spiel das, dann wird alles gut! Klassik ist Rebellion und Ordnungshüterin in einem, für Rhodes sind beide überlebenswichtig.

Rhodes will, dass wir beim Lesen seines Buchs das Elementare spüren, das seinem Borderline-Leben widerfahren ist; den Alltag eines Vergewaltigungsopfers nennt er "Krieg", und in diesen Gefechten ist er selbst - wie er sich nennt - das "Oberarschloch"; da tobt ein Selbsthass, der in den besten Passagen eine aberwitzige Mischung aus Inszenierung und Ohnmacht darstellt. Seine Sprache dient der Hygiene.

Dieses Unbedingte, Fanatische ist die Stärke dieses Buchs. James Rhodes will sich nicht sympathischer machen, als er es sowieso nicht ist, er verkauft eine absolut ehrliche Haut. Er redet sich um Kopf und Kragen. Er kennt kein Tabu. Er schneidet tief ins eigene Fleisch, bis auch das Buch blutet. Mit anderen Worten: Es lebt.

(w.g.)
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