Düsseldorf Lewis Carrolls dubiose Kinderliebe

Düsseldorf · Vor 150 Jahren erschien das weltberühmte Kinderbuch "Alice im Wunderland".

Diese Geschichte lässt sich auch rückwärts erzählen, also vom Ende her. Dann schreiben wir das Jahr 1932 und landen in der Columbia-Universität von New York. Die Auszeichnung einer 80-Jährigen steht auf dem Programm: Alice Hargreaves bekommt die Ehrendoktorwürde; und wer die Frau nicht kennt und zudem nicht weiß, was sie geleistet hat, wird keine befriedigende Antwort bekommen: wegen ihrer Verdienste um die Literatur, heißt es ebenso lapidar wie schwammig.

Eigentlich ist ihr Verdienst sogar nur eine Kahnfahrt auf der Themse am 4. Juli 1862, an der Alice als Zehnjährige teilnimmt. Neben ihr sitzen ihre Schwestern Ina und Tillie; ihnen gegenüber ein kauziger Mathematiker und Diakon, der niemals auf Handschuhe verzichtet und über dessen steife Haltung sich die Leute amüsieren. Außerdem stottert er, ein Sprachfehler, der sich in der Gesellschaft von Kindern aber wundersam löst. Sein Name: Charles Lutwidge Dodgson.

Weil es den drei Mädchen aber bald langweilig wird, beginnt Dodgson eine Geschichte zu erfinden - voll verzwickter Rätsel (in die der Mathematiker vernarrt ist) und fabelhafter Gestalten wie Grinsekatzen und Jabberwockys, Märzhasen und verrückter Hutmacher. Und so kommt auf dieser Bootsfahrt zweifach Neues in die Welt: Aus dem Diakon Dodgson wird der Autor Lewis Carroll; und aus der Stegreif-Geschichte eines der berühmtesten Kinderbücher der Weltliteratur: "Alice im Wunderland". Auf Bitten des Mädchens schreibt er die Geschichte später auf und übergibt sie der kleinen Alice im November 1864. Nur ein paar Monate dauert es, bis am 4. Juli 1865 "Alice im Wunderland" auch als echtes Buch erscheint und noch zu Carrolls Lebzeiten 180 000 Mal verkauft wird - damals phänomenal.

Bis dahin ist es eine märchenhafte Geschichte, und für den Leser des Buches ist sie es bis heute geblieben. Doch hat die romantische Entstehungsgeschichte mit ihrer legendären Bootsfahrt einen möglicherweise finsteren Hintergrund. Besonders kritisch wird dabei Carrolls so auffällige Liebe zu Kindern gesehen, die der Unverheiratete pflegt. Für ein pädophiles Verhalten gibt es bis heute keine Beweise, doch etliche bedenkenswerte Hinweise. Mit der jungen Alice trifft er sich über mehrere Jahre so oft, dass die Mutter ihm zumindest zeitweilig verbietet, sich mit den Töchtern zu treffen. Das sei "eine ziemlich überflüssige Vorsicht", schimpft Carroll. Er wird auf Spielplätzen gesehen, schafft haufenweise Spielsachen an, fotografiert Kinder - nackt oder als Feen verkleidet. Während der Fotoarbeiten müssen die Mütter draußen bleiben, wünscht er. Das Fotografieren betreibt er exzessiv: 102 Namen von Kleinkindern hat er allein für das Jahr 1863 alphabetisch aufgelistet.

Das Interesse an ihnen verliert er stets mit der Pubertät. So auch an Alice. "Traf Alice und Miss Prikkett im Innenhof. "Alice scheint ziemlich verändert zu sein, und kaum zu ihrem Vorteil - wahrscheinlich durchläuft sie gerade das ungemütliche Durchgangsstadium", notiert er im Tagebuch. Als sie 18 ist, wird er sie noch einmal fotografieren - diesmal als melancholisches Mädchen.

Zwei Jahre nach der Verleihung des Ehrendoktor-Titels stirbt Alice im Alter von 82 Jahren. Ein Jahrestag erinnert heute weiter an sie: Es ist der 25. April, der Welttag der Pädophilenbewegung.

Lektüretipps David R. Slavitt: "Alice über alles". Die Kinderliebe des genialen Erzählers Lewis Carroll. Die andere Bibliothek, 36 Euro Lewis Carroll: "Die Alice Romane". Reclam, 380 Seiten, 9,95 Euro; englischsprachige Ausgabe, Reclam, 4,80 Euro

(RP)
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