Geistliche Musik Lobe den Herren

Geistliche Musik ist für fast alle Komponisten ein besonderes Anliegen gewesen. In Passionen, Oratorien, Motetten, Chorälen oder Orgelwerken beschäftigten sie sich mit den zentralen Fragen des christlichen Glaubens. Er bot ihnen spannende und verlockende Inhalte. Frömmigkeit war für die Musiker allerdings nie Voraussetzung.

Es scheint eine unüberbrückbare Spanne zwischen dem kleinen Menschen über dem Notenblatt und dem großen Gott dort droben. Trotzdem haben zahllose Komponisten ihr Lebenswerk nicht eher abgeschlossen, bis sie nicht mit großem oder kleinem Aufwand ein theologisches, sakrales, geistliches, spirituelles Thema bearbeitet hatten - als Messe, als Requiem, als Oratorium, als raffiniertes Orgelchoralvorspiel, als einfacher Chorsatz oder als sinnenfroher Klotz wie Olivier Messiaens gigantische "Transfiguration". Kaum zu zählen sind jene Werke, die als kirchliche Gebrauchsliteratur in Kantorei-Mündern oder auf Orgelbänken zum Einsatz kommen. Gott, so muss man sagen, ist ein gewichtiges Thema in der Musikgeschichte, vermutlich sogar das größte. Alle Tonsetzer loben ihn, preisen ihn, verherrlichen ihn, rufen ihn, danken ihm, hoffen auf ihn. Auch in der Musik. Und auch, wenn sie nicht einmal zu Weihnachten in die Kirche gehen.

Dass Gott immer schon anwesend war in der Musikgeschichte, hat sehr einfache Gründe. Die Kirche war stets der größte Hort, Auftraggeber, Adressat und Teilchenbeschleuniger von Musik. Gewiss gab es auch im schnöden Alltag erbauliche Themen wie die Wirkkraft von Wein oder die Eifersucht in Liebesdingen; doch die Kunst des Aufschreibens beherrschten vor allem der Klerus und anverwandte Zünfte. Gregorianischen Choral sang man nicht auf dem Marktplatz.

Trotzdem musste der Komponist nicht zwingend gläubig sein, es sei denn, er war ohnedies von geistlichem Stand. Manche Musiker haben eine kirchliche Profession bewusst gesucht, denken wir nur an Vivaldi oder Liszt. Gleichwohl ist das Komponieren geistlicher Musik kein Glaubenszeugnis, sondern ein nüchterner Akt. Ein Oratorium und eine Messe bieten Stoffe wie Opern, nur eben ohne Handlung. Es geht um Texte, zu denen die passende Musik gefunden werden muss, da ist jene Spanne zwischen Mensch und Gott beinahe unerheblich. Andererseits ist die Materie komplizierter, fast uneinsehbar: Die "sichtbaren und unsichtbaren Dinge" des "Credo"-Textes sind eine harte Nuss. Dagegen ist das "Sanctus", das Heilig, eine Kleinigkeit, die immer gelingt: prunkvoll, hymnisch, große Besetzung. Es sei denn, einer wie Franz Schubert (der in Glaubensdingen stets seine eigene Meinung hatte und den "Credo"-Text in seinen Messvertonungen bisweilen kürzte und revidierte) schreibt das "Heilig" seiner "Deutschen Messe" - da tritt die Wirkung durch Andacht ein. Schubert vertont nicht das Hymnische, sondern das Scheue.

Der Fixpunkt aller Beschäftigung mit geistlicher Musik ist Johann Sebastian Bach, der jenem Bild optimal zu entsprechen scheint: der demütige Mann hier unten, klein und arbeitsam, dort droben der göttliche Widmungsträger und Empfänger. Vieles spricht dafür, dass es wirklich so war. Dass Bach sich mit sozusagen vergnügter Bescheidenheit opferte; dass er wahrscheinlich nächtelang über Notenpapier saß, damit da oben einer die Annahme nicht verweigerte.

Selbst im schlichtesten Choral sind die Einzelstimmen Kunstwerke, in denen Bach lebendig spricht. Über die Mittel- und Unterstimmen entschlüsselt Bach in den Chorälen seiner geistlichen Chorwerke gern theologische Aspekte. Für Bach musste das so sein, für ihn war Musik eine Wissenschaft, eine Disziplin des Quadriviums, eine Gelehrsamkeit nicht nur wie die Mathematik. Musik war für ihn Mathematik.

Bach hätte seine geistlichen Werke überhaupt nicht komponieren können, wenn ihn nicht symbolreiche Texte animiert hätten. Bachs Texte sind für uns wahre Metaphern-Dschungel, in denen sich die gebildeten Zeitgenossen freilich nie verirrten. "Himmelsschlüsselblumen" (im Arioso "Betrachte, meine Seel" der "Johannes-Passion") pflückte der Leipziger Gottesdienstbesucher von damals ohne Probleme. Unser Vorteil von heute: Wir können die Noten sehen und die Tatsache, dass bei "Himmel" die Bassstimme das Notensystem nach oben übersteigt. Das ist im Moment des Ariosos theologisch gedacht: göttliche Erlösung der Menschheit durch Jesus Christus, der vom Himmel auf die Erde kam und in den Himmel zurückkehren wird.

Bach hat sich an vielen und vielem orientiert, an den Artisten der franko-flämischen Vokalpolyphonie, an den Italienern - und umgekehrt wurde er, mit einer gewissen Zeitverzögerung, zum Integralmeister für alle, die sich am lieben Gott versuchten. Bachs h-Moll-Messe, seine großen Passionen, die Kantaten oder die Motetten wirken auch heute noch wie Giganten, unerreicht in ihrer Tiefe und Vollkommenheit, aber zugleich von einer Frische, die uns an unbegrenzte Haltbarkeit glauben lässt.

Die Wiener Klassiker verehrten ihren Bach, hielten es aber vorerst mit dem volkstümlichen Händel, dessen geniale Art, unvergängliche Melodien zu erfinden, auch im geistlichen Fach für Animation sorgte. Mozart besorgte nicht grundlos eine eigene Bearbeitung von Händels "Messiah", in der ein deutscher Text und Klarinetten die auffälligsten Neuigkeiten sind. Auf der anderen Seite ist gerade Mozart ein betrüblicher Fall, denn seine beiden geistlichen Werke von überdimensionalem Rang sind unvollendet geblieben. Während das "Requiem" mythischen Rang erlangte, ist die c-Moll-Messe immer noch ein Werk für Insider.

Bei Ludwig van Beethoven lagen die Verhältnisse anders. Als er seine "Missa solemnis" konzipierte, hatte er ähnlich utopistische Ideen wie Bach bei der h-Moll-Messe. Bei den mitunter absurd hohen Anforderungen dachte Beethoven womöglich an die Musiker und die Hörer der Zukunft. "Et vitam venturi saeculi" im "Credo" - da wird der Chorsopran mehrfach hintereinander aus dem Stand aufs hohe B gejagt. Die Mühsal, das Leben der zukünftigen Welt zu erreichen, ist einkomponiert. Gleichzeitig besaß die "Missa" eine politische Dimension, weil Beethoven wie Mozart und Bach ein Freidenker war. Seine "Bitte um äußeren und inneren Frieden" im "Agnus Dei" spricht Bände. Indes war Beethovens Glaubensverständnis vom Denken der Aufklärung bestimmt. Vor allem die "Betrachtungen über die Werke Gottes im Reiche der Natur und der Vorsehung auf alle Tage des Jahres", verfasst vom protestantischen Theologen Christoph Christian Sturm, hatten Beethoven animiert. Sturms zentrale These ist es, dass es "für ein unmittelbares Verhältnis zwischen Mensch und Gott durchaus keiner Intervention von Klerus bedurfte".

Das 19. Jahrhundert kannte andere Präferenzen als die Kirchenmusik, doch jeder schrieb damals ein Requiem oder eine Messe, sie befanden sich im Anforderungskatalog, und nicht jeder wurde glücklich damit. Schumann sah sich erst in seinen Düsseldorfer Tagen dazu gezwungen, beide Typen geistlicher Musik anzugehen - mit eher mäßigem Ertrag. Glücklicher dagegen der auf diesem Arbeitsgebiet reifere und mitreißendere Felix Mendelssohn Bartholdy, dessen "Elias" im Allerheiligsten der geistlichen Musik einen vorderen Platz einnimmt. Allein der Chorsatz "Denn er hat seinen Engeln" ist von einer tröstlichen Zartheit, die sogar nordkoreanische Diktatoren weinen lassen könnte. Johannes Brahms, der Stilbildende, löste sich aus jeder Umklammerung eines Textes und schrieb auf der Basis profunder Bibelfestigkeit sein "Deutsches Requiem" - und zwar nicht als Trauermusik, sondern zum Trost derer, "die da Leid tragen".

Die zentralen liturgischen und religiösen Texte haben letztlich jeden großen Komponisten gepackt und inspiriert, haben ihm bilderreiche Geschichten geliefert und erhabene Formeln. So hatten es Giuseppe Verdi oder Giacomo Puccini nicht weit zum "Requiem" oder zur "Messa di Gloria"; mit den Melodien beider Werke könnte man schönste Opern gestalten.

Die Franzosen Gabriel Fauré und Maurice Duruflé bauten am Ende ihrer "Requiem"-Vertonungen einen Link ins Zukünftige, indem sie die Antiphon "In paradisum" als kindlich behüteten Prozessionsweg der gestorbenen Seele skizzierten. Auch Leo Janáek , der lange genug in der Kirche Orgel gespielt hatte, wusste, welche Themen ihm entgegendrängten - und in seinem russisch orientierten Kulturkosmos schrieb er die spektakuläre "Glagolitische Messe", die sich das Recht nimmt, Texte zu verändern und der Orgel sogar einen eigenen Satz einzuräumen. Derlei traute sich nur, wem solche Musik ein Herzensbedürfnis war.

Herzensbedürfnisse? Hören wir sie in der "Messe" für Chor a cappella von Paul Hindemith? Vielleicht, doch auch eine faszinierende Gelehrsamkeit, nach alter Väter Sitte die Kunst der Textdeutung in die Moderne zu übertragen. Ähnlich ging es György Ligeti, der in seinem "Requiem" und im "Lux aeterna" zwei Meisterwerke schrieb, in denen expressiver liturgisch-sakraler Text zu vibrierender klanglicher Deutung führte. Bei Krzysztof Penderecki war der Aspekt der spirituellen Empathie sehr ausgeprägt, was seiner "Lukas-Passion" Züge eines Bekenntniswerks verlieh.

Hätte Sergej Rachmaninow seine famosen Zyklen, etwa die Vigil op. 37, schreiben können, wenn er mit der Orthodoxie wirklich nichts am Hut gehabt hätte? Ein Rezensent äußerte sich vielsagend zu Rachmaninows geistlichen Werken: "Man muss nicht gläubig sein, nicht die Dogmen und Rituale der orthodoxen Kirche kennen, um das Kunstvolle, die Ausdrucksfülle und die Poesie dieser Musik zu spüren." Ist man aber eingeweiht in die Welt des byzantinischen Glaubens, so empfindet man, wie Rachmaninow selbst anlässlich der Uraufführung über sein Werk befand, diese Vigil als "Stunde der glücklichsten Befriedigung". Dieser große Chor, dieses majestätische Volumen, dieser sakrale Nachhall können auch Heiden fromm machen.

Der bedeutendste Komponist moderner Kirchenmusik war fraglos Igor Strawinsky, durch dessen gesamtes Schaffen das ewige Licht leuchtet - von der unfassbar intensiven "Psalmensinfonie" über die dunklen "Threni" bis zu den "Requiem Canticles". In seiner zwölftönigen "Sintflut" kommt Gott sogar als singende Figur vor: Er ist auf zwei Männerstimmen verteilt, einer allein schafft es nicht. Wenn einer dem großen Igor Strawinsky in der ewigen Bestenliste den Rang streitig machen könnte, dann der Franzose Olivier Messiaen, vor allem in seinen von Vogelstimmen verzwitscherten, von indischen Rhythmen metrisierten und von gottesnahem Fis-Dur geadelten Orgelwerken.

Der volkstümlichste Komponist moderner Kirchenmusik ist dagegen Arvo Pärt. Der Bärtige aus Estland schreibt fast ohne Unterlass, was kein Wunder ist: Pärt glaubt alles, was er komponiert, und er glaubt auch an die Inhalte. Seine Musik ist sein eigenes Manna, doch oft tönt sie wie aus dem Dunkel einer Krypta. Sogar das Sanctus der "Berliner Messe" steht in cis-Moll.

So gibt es in Gottes Haues für jeden Komponisten eine Wohnung aus Musik. Wie er sie einrichtet, bleibt jedem selbst überlassen. Aber dort zu wohnen, das empfinden alle als maximal reizvoll.

(w.g.)
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