Essen "Lohengrin" als Familiendrama

Essen · Tatjana Gürbaca triumphiert mit Wagners Oper im Essener Aalto-Theater.

Die meisten Opernregisseure fürchten sich vor Wagners Längen. Tatjana Gürbaca dagegen kostet Wagners gedehnte Zeit in vollen Zügen aus. Denn die Regisseurin besitzt einen unfehlbaren Spürsinn für rumorende Subtexte und spannungsreiche Widersprüche zwischen Musik und Text, die sie in verblüffende Bilder zu bannen weiß. So gelingen ihr immer wieder aufregende Opernabende, wie nun in der Essener Aalto-Oper mit ihrer furiosen "Lohengrin"-Deutung, die Maßstäbe setzen dürfte.

Im Vorspiel ist ein Wald per Video auf einen Gaze-Vorhang projiziert. Leise bewegen sich Blätter und Grashalme im Halbdunkel des Blätterdachs. Sehnsucht, Idylle und Bedrohung melden sich gleichzeitig zu den weltentrückten Klängen. Elsa tritt aus der Gasse vor den Vorhang, schaut träumend auf den Wald. Dann wird der Vorhang halb transparent und zeigt dahinter eine stumme Szene: Ortrud führt den kleinen Gottfried an der Hand. In der nächsten Szene sitzt Gottfried mit roter Krone an einem Tisch, seine Schwester Elsa ihm gegenüber. Von hinten nähert sich Telramund, will Elsa zärtlich übers Haar streichen, zögert. Mit diesen kurzen Szenen gelingt es Gürbaca, die ganze Vorgeschichte des "Lohengrin" zu erzählen und damit die verstrickte Personenkonstellation aufzudecken: Telramund liebte die noch unmündige Elsa, Ortrud war nur zweite Wahl und weiß dies wohl. Dieses fatale Dreieck ist für Gürbaca der Schlüssel ihrer Deutung, die sie mit präziser Wucht erzählt.

Lohengrin bleibt in dieser Konstellation ein Fremder, die Zwänge seiner Grals-Herkunft wirken wie eine soziale Behinderung, die ihm menschliche Beziehungen unmöglich machen. Oft verschränkt er die Arme, als komme er nicht aus sich heraus. Sein Erscheinen geschieht beiläufig, denn die Erlösungs-Hysterie des Volks richtet sich ganz auf den Schwan. Und der ist in Essen weder Plüschtier noch Lichtsäule, sondern der misshandelte, verletzte Gottfried, der allgegenwärtig ist und manchmal wie eine tote Puppe an Lohengrin klebt und im Brautgemach einen gellenden Schrei ausstößt, als es einen Moment lang so aussieht, als würde das Paar sich doch noch finden.

Das ist nur einer der vielen Gänsehaut-Momente, die diesen Abend zum Ereignis machen. Zu rühmen wäre noch so vieles, die großartige Chorregie, die schlichte, sehr steile Treppe, die so virtuos bespielt und beleuchtet wird, die hinreißende Szene mit dem unendlich langen Schleier vor dem Münster. Und natürlich Tomá Netopils hochsensibles, atmendes Dirigat, das bestens aufgelegte Orchester und das durchweg leicht und jugendlich klingende Sängerensemble, angeführt von Jessica Muirheads berückender Elsa, Daniel Johanssons hochdifferenziert singendem, pianotauglichem und zugleich heldischem Lohengrin, Katrin Kappluschs berührender, schlauer Ortrud mit schlankem Mezzo und Heiko Trinsingers rasendem Telramund. Perfekt und klangschön, makellos intonierend auch der Chor.

(RP)
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