Duisburg Loslassen!

Duisburg · Wie wollen wir im Alter leben? Viele verdrängen diese Frage. Dabei ist es sinnvoll, sich Gedanken über das Wohnen im Alter zu machen, so lange man Spielräume hat. So wie die Kanngießers.

Am Hang blühen die Rosen. Üppig leuchtet ihr Rot. Oben steht die Terrassentür leicht aufgeschoben, Wind streicht durch die Bäume, ein Brunnen plätschert. Selbst mit geschlossenen Augen wüsste man sich hier in einer Idylle.

Albert und Bärbl Kanngießer werden diese Idylle verlassen. Das haben sie entschieden. Bald schon werden sie ihren Garten, ihr Haus am Stadtrand, 50 Jahre Heimischsein aufgeben und in die Duisburger Innenstadt ziehen. Weil sie älter werden. Weil sie wissen, dass ihnen irgendwann die Kraft für die Arbeit in den Blumenbeeten, für 280 Quadratmeter Wohnfläche, für Einkaufsfahrten fehlen wird.

Dabei hat Albert Kanngießer (78) dieses Haus von seinem Vater übernommen und der von seinem Vater. Es ist das Haus, in das seine Familie nach dem Krieg zurückkehrte. Das Haus, das er mit seiner Frau jahrelang umgebaut hat, in dem seine eigenen drei Kinder aufwuchsen, in dem seine Frau das Ruhrgebiet schätzen lernte. Trotzdem wirken die Eheleute kein bisschen unglücklich über den Bruch, den sie bald vollziehen werden. Freiwillig. Beschlossene Sache. "Wir sind uns einig, dass wir diesen Schritt jetzt gehen wollen", sagt Albert Kanngießer, "wir wollen es bequemer haben, damit wir möglichst lange unabhängig leben können." Er schaut in den Garten. "Ich weiß, dass das gut sein wird."

Loslassen, aufgeben, überschaubar machen - viele Menschen fürchten den Moment im Leben, da sie einen Teil ihres Alltags hinter sich lassen und sich von Dingen und Räumlichkeiten trennen müssen, weil das Alter, weil schwindende Kraft und Beweglichkeit, es verlangen. Loslassen bedeutet für sie Verlust, darum denken sie nicht so gerne darüber nach, wie sie im Alter leben wollen. Was da noch kommt, außer Abschied.

"Haus und Garten sind die wichtigsten Sinnbilder dafür, dass Menschen autonom sind, darum fällt der Abschied davon so schwer", sagt Hans-Werner Wahl, Professor für Psychologie an der Uni Heidelberg. Dabei sei es eigentlich nur eine "Verdichtung von Kontrolle", wenn ältere Menschen die obere Etage stilllegten oder auf Plastikblumen umstiegen. "Sie passen ihr Leben an ihre Möglichkeiten an, und das ist gut", so Wahl.

Altersforscher raten, sich möglichst früh damit zu beschäftigen, wie man das eigene Lebensumfeld an die Forderungen des Alters anpassen kann. Solange es noch keine Zwänge gibt - keine Stürze, keine Vergesslichkeit, keine Gefühle der Ohnmacht. Dann kann es sogar Spaß machen, sich mit den eigenen Vorstellungen vom Altwerden und den entsprechenden Wohnmöglichkeiten vom Mehrgenerationenhaus bis zum altersgemischten Genossenschafts-Mieterverein zu beschäftigen. Auch das Altenheim sollte dabei nicht ausgespart werden. Experten empfehlen, sich die Angebote im näheren Umfeld anzusehen, um konkrete Eindrücke zu gewinnen, statt sich diffusen Befürchtungen hinzugeben. Aus Angst vor den Unwägbarkeiten des eigenen Schwächerwerdens vergeben viele Menschen die Chance, das Alter als gestaltbaren Lebensabschnitt zu begreifen.

"Ich empfinde das Zusammenpacken sogar als Befreiung", sagt Bärbl Kanngießer (73). Dabei hat sie mit dem Liebsten begonnen, den Büchern, ausgerechnet - sie hat Buchhändlerin gelernt. "Es gibt Werke, von denen mag ich mich nicht trennen, die gehören zu unserem Leben", sagt sie, "aber vieles Andere hat sich einfach angesammelt, da schaut man nie mehr rein." Ein Bilderbuch von Wolf Erlbruch kommt auch in die Umzugskisten. Das hat Bärbl Kanngießer gerade erst gekauft, weil sie es wunderschön fand. Der Umzug ist eine Zäsur in ihrem Leben, kein Endpunkt.

Nach einem Sturz oder einer schweren Diagnose dagegen können die Handlungsspielräume für ältere Menschen plötzlich eng werden. Der Betroffene hat keine Wahl mehr, fühlt sich ausgeliefert. Und landet womöglich ohne Vorbereitung in einem anonymen Lebensumfeld, in dem kaum noch etwas an die eigene Biografie erinnert.

Dazu verkehren sich oft auch die Rollen in der Familie, und das sorgt für zusätzliche Spannungen. "Eltern müssen oft akzeptieren, dass plötzlich ihre Kinder etwas bestimmen. Darum ist es gut, wenn sich beide Generationen darüber austauschen, bevor eine Krankheit das Thema akut macht", sagt Frank Jessen, Direktor der Klinik für Psychiatrie an der Uniklinik Köln. "Der Lebensraum im Alter ist für viele Menschen eine Blackbox. Je konkreter man überlegt, wie es darin aussehen könnte, desto geringer ist die Angst - übrigens auch für die Kinder, die sich an den Gedanken gewöhnen müssen, dass ihre Eltern in ein Altenheim ziehen."

Auch die Kinder der Kanngießers mussten erst verstehen lernen, dass ihre Eltern das Haus verkaufen, obwohl es ihnen doch noch gut geht. Die Kinder leben weit entfernt in attraktiven Regionen Europas, doch zu ihnen ziehen wollten die Kanngießers nicht. "Wir haben unser Leben in Duisburg verbracht, das ist unser Zuhause", sagt Albert Kanngießer, der eine Zahnarztpraxis im Ort hatte, "außerdem geht es uns ja um Unabhängigkeit im Alter, das bedeutet auch Unabhängigkeit von den Kindern." Ein Eichhörnchen löst sich aus dem satten Grün des Gartens, trinkt an der plätschernden Wasserstelle. Kanngießer deutet hin, lächelt. "Nein", sagt er, "das werden wir bald nicht mehr sehen. Dafür muss ich nicht mehr zum Einkaufen fahren, die Läden sind gleich um die Ecke. Irgendwann werde ich den Führerschein abgeben. Auto abschaffen, das ist auch Unabhängigkeit."

Loslassen bedeutet auch Erleichterung. Doch kann das nur empfinden, wer sich selbstbewusst entscheidet. "Im Stresszustand will der Mensch festhalten, beharren, seine Burg gegen das anrückende Alter verteidigen", sagt der Gesundheitswissenschaftler Nils Altner von der Uni Duisburg-Essen. "Wenn er sich dagegen aus freien Stücken mit dem eigenen Altwerden befasst, kann er sogar Lust daran empfinden, mental diverse Optionen durchzuspielen." Dabei geht es darum zu überlegen, wofür man seine Kraft, seine Zeit, sein Geld in Zukunft einsetzen will. "Selbstaktualisierung" nennt Altner das. Der Mensch hält inne, "fühlt sich selbst den Puls", macht sich bewusst, wie er lebt, was er von sich fordert, wofür seine Kraft reicht. Man kann darüber nachdenken, ohne das deprimierende "noch" im Kopf. Bilanzieren, wofür die Kraft reicht, ist keine Frage des Alters.

Bestimmte Anforderungen beim Wohnen schon. Darum bieten viele Städte Wohnberatung für Senioren, informieren über Möglichkeiten, die eigene Bleibe barrierefrei umzubauen oder auf die Bedürfnisse etwa bei der Pflege eines Demenzkranken anzupassen. Auch das Amt für Stadtentwicklung informiert in vielen Kommunen über aktuelle Bau- und Wohngruppenprojekte, wenn deren Zahl gemessen am Bedarf auch noch arg überschaubar ist. "Wir sind noch viel zu sehr verhaftet in der Vorstellung, dass es hauptsächlich die private Wohnform gibt und dann das Heim", sagt Altersforscher Hans-Werner Wahl, "es gibt viele neue Modelle, ein Leben im privaten Umfeld möglichst lange zu ermöglichen, daran müssen wir weiter arbeiten."

Die Kanngießers haben sich zwei Jahre Zeit genommen, ein passendes Lebensumfeld für sich zu suchen. Die erste Idee, in einen hübschen Altbau zu ziehen, verwarfen sie nach einiger Zeit, weil diese Wohnungen oft nicht mit Aufzug erreichbar sind oder kein umbaufähiges Bad besitzen. Am Ende entschlossen sie sich für eine Wohnung in einem Neubaukomplex, der gleich altersgerecht gebaut wird. "Wir haben die Häuser wachsen sehen, waren beim Richtfest, haben Nachbarn kennengelernt, konnten viele Details mitentscheiden", sagt Albert Kanngießer. Er zieht in ein neues Zuhause, gestaltet die nächste Phase seines Lebens. "Wir waren nie ängstlich", sagt Kanngießer, "das hat uns immer Glück gebracht. Es beginnt jetzt etwas Neues, und wir freuen uns darauf."

(dok)
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