Vivienne Westwood "Man muss werden, wer man ist"

Die Britin (74) ist die wichtigste Modedesignerin. Sie will nicht in den Ruhestand, denn dann könnte sie nicht ausdrücken, was sie bewegt.

Düsseldorf Ihre orangefarbene Mähne ist einem schneeweißen Kurzhaarschnitt gewichen. Die Augenbrauen hat Vivienne Westwood mit doppeltem roten Strich nachgezogen. Sie trägt zwei unterschiedliche Unterarmstulpen, unter ihrem Kleid blitzt eine helle Netzstrumpfhose hervor - so würde in Deutschland kaum eine Rentnerin auf die Straße gehen. Die Britin ist im Seniorenalter angekommen, sie ist 74, und bei ihr ist alles ein bisschen anders. Sie hat den Punk mit erfunden und die Modewelt revolutioniert. Die Mode-Ikone war gestern auf Einladung des Initiativkreises Mönchengladbach zur Hochschule Niederrhein gekommen. Neben ihr in der Hotelsuite sitzt ihr Ehemann, der Österreicher Andreas Kronthaler, knapp 50, und einst ihr Student.

Worin liegt das Geheimnis Ihrer Beziehung?

Westwood Wir respektieren das Talent des anderen, wenn wir miteinander arbeiten, das ist das Wichtigste. Wir haben unterschiedliche Stärken, - nicht unbedingt Schwächen (lacht) - auf die wir aufbauen. Er designt genauso viel wie ich.

Woher kommt Ihre Inspiration?

Westwood Ich bin eine Aktivistin, und sehr viele Ideen stammen aus diesem Bereich. Sie gehen in Entwürfe über - deshalb mache ich zum Beispiel so viel mit Zeichen. Es ist großartig, wenn man erst eine Idee hat, die man dann umsetzt. Aber meist ist es andersherum: Ich sehe etwas, etwa einen Stoff, dann beginnt der kreative Prozess. Zum Beispiel habe ich mal einen merkwürdigen Blazer auf einer Puppe gesehen, und daraus ist eine ganze Kollektion entstanden: Die Frauen trugen Blazer und dazu bloß Strumpfhosen, ich nannte das Ganze "Prinz Charming". Oft fange ich schon mit einer neuen Kollektion an, bevor die letzte fertiggestellt ist, weil zwischendrin etwas passiert, das mich inspiriert.

Kann man ein Gespür für Mode lernen oder wird man damit geboren?

Westwood Man muss Kultur haben und dann den eigenen Geschmack kultivieren. Viele Menschen haben aber keine Kultur, sie kennen nur Konsum - und das ist das große Problem. Das macht es sogar schwierig, eine gute Assistentin zu finden. Junge Menschen wurden dazu ausgebildet, etwas zu tun, wissen aber nicht, was es heißt, ein Mensch zu sein, sie haben ihre Wurzeln verloren. Und das spiegelt sich in ihren Kreationen wider. Ich kann oberflächliche Mode nicht ausstehen.

Sie haben 30 Jahre lang in einem Häuserblock im Londoner Arbeiterstadtteil Clapham gewohnt, dann sind sie in ein großes, eigenes Haus gezogen. Fühlen Sie sich dort wohl?

Westwood Ich habe ein schlechtes Gewissen. Dort ist so viel Platz. Es sollten auf den drei Etagen eigentlich nicht nur zwei Menschen wohnen, sondern eine ganze Familie. Kronthaler Soo groß ist es nun auch wieder nicht. Westwood Er hat das damals sehr geschickt angestellt: Das Haus hat er renoviert. Dann hat er mir vorgeschlagen, umzuziehen. Weil ich vorher nur mit dem Nötigsten gelebt hatte, hat es nur zwei oder drei Stunden gedauert, alles einzupacken. Ich hatte nur ein paar Koffer, der ganze Umzug war in einem Tag erledigt.

Wie kann man heute als junger Designer berühmt werden?

Westwood Berühmtheit kann man nicht planen. Ich selbst wusste, dass ich gut war, als ich mit dem Schneidern und Designen begann, und ich war ehrgeizig. Es geht darum, die Welt so zu verstehen, wie sie ist und das in der Mode auszudrücken. Das Talent und die Neigung zu haben, ist dabei das Entscheidende - nur der Wunsch, Modedesigner zu werden reicht allein nicht. Manche sollten genau abwägen, ob es das Richtige für sie ist oder ob sie nicht lieber Gehirnchirurg werden sollten.

Was wäre gewesen, wenn Sie nicht Modedesignerin geworden wären?

Westwood Erstens: Ich wäre noch mehr in kulturellen Dingen involviert als heute. Ich bin sehr am Theater und an der Literatur interessiert; ich denke, ich könnte sogar ein Stück schreiben. Zweitens: Mir hat mein Job als Lehrerin, den ich für einige Jahre ausübte, sehr gefallen. Ich habe, eine sehr gefestigte, bisweilen ketzerische Meinung. Mir ist es wichtig, dass Kinder richtig aufgezogen werden und Bildung erhalten. Mich stört es, dass es oft nur darum geht, in der Wirtschaft klarzukommen, zu bestehen. Aber es geht auch darum, die schönen Dinge zu sehen, das eigene Potenziel zu erkennen und zu fördern. Ein guter Lehrer ist der, der ein Kind sieht und erkennt, was es braucht, und es anleitet. Man muss werden, wer man ist.

Der Geschmack ändert sich, das betrifft Mode wie Musik. Würden Sie sich eine Rückkehr des Punk und der damit verbundenen Szene wünschen?

Westwood Nein. Ich habe kein Interesse mehr an Punk. Mich macht es zwar stolz, dass die Leute damals gesagt haben, uns stört das System und dass die Politik falsch war. Doch die Zeit hat sich geändert. Es ist schwer zu sagen, was heute subversiv ist: Es geht um Ideen, nicht darum, zu spucken, herumzuspringen und komische Frisuren zu tragen. Als ich das erkannte, haben meine Kreationen etwas Theatrales bekommen: Sie beschäftigen sich mit der Frage, wer man ist.

In Deutschland gibt es bislang keinen "Vivienne Westwood"-Laden. Dafür gibt es zahlreiche Boutiquen in Asien, natürlich im Vereinigten Königreich und sogar ein Geschäft in Wien. Warum ist das so?

Westwood Wir sind momentan eher dabei, unsere Aktivitäten zu beschränken, uns ein kleineres, aber funktionierendes Netzwerk zu schaffen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass wir irgendwann in der Zukunft wieder expandieren werden, aber zunächst möchte ich die Herstellung unserer Produkte unter Kontrolle haben. Wir wollen ein verlässliches, nachhaltiges Unternehmen sein. Unsere Maxime ist "buy less, chose well, make it last" (weniger kaufen, sorgfältig aussuchen, es beständig sein lassen).

Wird die Billig-Textil-Industrie irgendwann zum Erliegen kommen?

Westwood Hoffentlich! Ich denke, die Massenproduktion kann es nicht immer geben. Aber noch gibt es sehr viele Leute, die kaufen lieber viel Schlechtes statt wenig Gutes. Irgendwann wird vielleicht ein Umdenken in der Gesellschaft stattfinden, hin zu "grüner Mode", von der man sehr lange etwas hat und die gut für einen ist.

Was sind die drei großen Modetrends in diesem Jahr?

Westwood Das weiß ich nicht. Damit beschäftige ich mich nicht. Vielleicht der Hippie-Chic?

Wenn es eines Tages eine Filmbiografie über Sie gibt, wen würden Sie gerne in der Hauptrolle sehen?

Westwood Ich verfolge nicht besonders, was sich im Filmbusiness tut - ich weiß es nicht. Was meinst du, Andreas? Kronthaler Vielleicht Tilda Swinton? Westwood Warum? Hör auf damit! Kronthaler Sie sieht ein bisschen so aus wie du, und sie spricht ein tolles Englisch und ist eine hervorragende Schauspielerin. Westwood Stimmt, du hast recht. Sie ist wirklich toll und wäre eine gute Wahl.

Werden Sie jemals in den Ruhestand gehen?

Westwood Nein, das werde ich nicht. Ich schätze die Möglichkeit, die mir das Leben als Modedesignerin gibt, meinen Mund zu öffnen und etwas zu sagen. Das ist mir wichtig. Und wenn Leute in Rente gehen, tun sie normalerweise das, was sie immer tun wollten. Das tue ich schon mein Leben lang.

(RP)
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