Roger Willemsen "Manche Augenblicke sind eben nur Pointen "

Mit "Momentum" gelingt dem Autor zum achten Mal in Folge ein Bestseller. Dabei ist sein neues Buch nicht flüssig zu lesen.

Düsseldorf 220 Auftritte absolviert Roger Willemsen alleine in diesem Jahr, seine Lesereise läuft gut. Auch das neue Buch "Momentum" sorgt für volle Säle, bis zu 700 Menschen kommen, um ihm zuzuhören. Im Geschäft, im Zug und auf der Straße schiebt man ihm das knapp 300 Seiten dicke Werk unter mit Signierwünschen. Es ist ein ungewöhnliches Buch, so dass der S. Fischer-Verlag kein Genre auf dem Cover benennt: nicht Roman, nicht Sachbuch – beinahe ein poetisches Tagebuch. Es ist auf jeden Fall der achte Bestseller in Folge. Es gibt keinen anderen deutschen Autor, der das bisher geschafft hat.

Wie machen Sie das, nicht nur immer wieder ein neues Buch, sondern einen neuen Bestseller zu schreiben?

Willemsen Ich bin selber erstaunt darüber, dass es offenbar so viele Menschen gibt, die sich für meine Bücher interessieren.

Dazu mit so einem sperrigen Titel?

Willemsen Der ist gar nicht so sperrig, bei Schiller und Goethe kam der Begriff schon vor, dort wird er für den besonderen Augenblick verwendet. Im Englischen bedeutet Momentum so viel wie Impuls.

Was bedeutet Momentum demnach?

Willemsen Für mich ist es der fruchtbare Augenblick, ein Moment, der sich ins Körpergedächtnis einprägt, weil man in einer Situation, in einem Gedanken ganz fest am Boden, mitten in der Wirklichkeit, war.

Mal stolpern Sie, mal wandeln Sie, mit welcher Geschwindigkeit erleben Sie die besonderen Augenblicke, die Sie aneinandergefügt haben wie Perlen an eine Schnur?

Willemsen Mit einer ruhigen Taktzahl. Denn wer stets Angst hat, etwas zu verpassen, der beschleunigt allzu zu sehr. Ich bin eher entschleunigt, suche die Vergegenwärtigung.

Mir fehlt die Zeitachse...

Willemsen Das ist so gewünscht. Doch tatsächlich genau konstruiert - von der Geburt, über die Kindheit und Jugend zum Leben des Erwachsenen, der viel auf Reisen ist.

Wo ist der Rote Faden?

Willemsen Es geht nicht um mein Leben, sondern darum, Situationen des allgemeinen Individuums zu zeigen. Das Komische, das Feierliche, das Erotische, das Groteske. Eigentlich müssten 50 weitere Bücher von 50 Menschen erscheinen, die alle ihr Leben aus Momenten zusammensetzen.

Das Bindeglied sind Sie – oder habe ich eine höhere Ordnung übersehen?

Willemsen Die Einheit, in der alles zusammenläuft, bin tatsächlich ich, der zuletzt sagt, diese Momente haben mich ergriffen.

Angesichts der prallen Bilder muss der Leser tief durchatmen, sich ganz tief in Roger Willemsen einfühlen – ist das Ihre Absicht?

Willemsen Was mir reichen würde, ist die Empathie, die jeder gute Leser mitbringt. Manche Momente sind nur vier Zeilen lang, andere ´sind viel ausgeschmückter.

Am Ende setzt sich Ihr Buch aus Momenten und Fragmenten zusammen. Ein Leben allein aus Augenblicken – war das nicht riskant?

Willemsen Das ist das Kompositionsschema. Manche Augenblicke sind eben nur Pointen. Es gibt einen inneren Verlauf der Gegensätze, das ist die Spieglung dessen, dass ich das Leben so empfinde.

Im Traum lieben Sie Ursula Andress, in einem Bordell erleben Sie, dass Sie nicht alt genug sind für dieses Geschäft. Liebe und Erotik blitzen immer wieder durch. Wie wahr und wichtig ist das im Gesamtzusammenhang Ihres Lebens?

Willemsen Alles ist wahr, abgeschrieben aus Hunderten alten Notizbüchern. Und alles ist demnach auch wichtig.

Mein Lieblings-Momentum ist die Beschreibung vom Meer. Sie berichten, wie sie im Augenschein des Meeres ertranken... in diesem Moment sind Sie nur noch ein Poet, oder?

Willemsen Interessant, dass Sie das sagen. Meine Bücher sind schwer einzuordnen, liegen auf der Schnittstelle zwischen Belletristik- und Sachbuchabteilung. Ich glaube, Sie haben recht: Diesmal ist es Lyrik. Es geht ins Lyrische, und das schließt das Realistische, Komische, Drastische ja nicht aus.

Welche Leseanleitung schlagen Sie vor für dieses ungewöhnliche Buch?

Willemsen Erst kommt man kaum rein, am Ende kaum mehr raus. Man muss sich auf das Prinzip des Erzählens einlassen, dann wird sich der Sog entwickeln.

Und welchen Ertrag wünschen Sie dem Leser?

Willemsen Am schönsten wäre: Das Buch würde produktiv machen, die Leser würden hingehen und ihre Momente aufschreiben oder sich ihrer Momente klar werden. Dann können sie sich von mir abstoßen und sich mit ihren eigenen Momenten auseinandersetzen.

Roger willemsen: "Momentum". S. fischer Verlag 2012, 22,70 euro

(RP)
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