Serie Luther und seine Zeit (1) Der Fundamentalist

Düsseldorf · An die Schlosskirche hat Martin Luther seine 95 Thesen nie genagelt. Trotzdem hat der wütende Professor aus Wittenberg eine Bewegung ausgelöst, die niemand stoppen konnte. Weil die Zeit dafür reif war.

 Martin Luther.

Martin Luther.

Foto: Wikipedia

Der junge Doktor der Theologie durchquert festen Schrittes die Wittenberger Altstadt; im schwarzen Rock, mit einem Hammer in der Hand. Voller Wut auf Papst und Klerus nagelt er am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel an die Tür der Schlosskirche.

Auch wenn das Ereignis historisch nicht zu belegen ist, hat es sich ins nationale Gedächtnis der Deutschen eingebrannt, wie ein Spielfilm, den man oft gesehen hat: Der Thesenanschlag Martin Luthers ist zum Gründungsmythos der evangelischen Kirche geworden; zum Grundstein für die deutsche Luther-Erzählung: der Nationalheld, der Rebell, "der erste Wutbürger", wie der "Spiegel" ihn genannt hat.

Dabei war Luther 1517 nicht viel mehr als ein unbekannter Theologe. Ein frommer Mönch, der sich durch intensives Studium der alten Schriften von Aristoteles bis Augustinus und Erasmus von Rotterdam eine theologische Professur an der erst 15 Jahre alten Wittenberger Universität erarbeitet hatte. Heute würde man sagen, Luther war ein Erstakademiker. Seine Eltern waren Bauern; der Vater ein später durch den Bergbau reich gewordener Emporkömmling, der für seinen Sohn Besseres im Sinn hatte: ein Jura-Studium und eine Position als Stadtrat.

Ablassbulle des Papstes

Der "Thesenanschlag" war der Versuch, sich auf akademisch-theologischer Ebene mit den Kirchenoberen und anderen Gelehrten über eine Reform der Kirche zu streiten. Seine 95 Thesen schickte Luther als Brief an den Erzbischof von Mainz und Magdeburg, der im Namen Roms das Ablassgeschäft im Reich verwaltete. Kurz vorher war eine Ablassbulle des Papstes bekanntgeworden, der Geld für den Bau des Petersdoms benötigte.

Wenn es einen Thesenanschlag an der Tür der Schlosskirche gegeben hat, dann eher nicht durch Luther, sondern durch den Hausmeister der Universität. Thesenanschläge waren damals ein verbreitetes Mittel, um mit anderen Gelehrten in eine Disputation zu kommen. Und so heißt es zu Beginn der 95 Thesen auch: "Aus Liebe zur Wahrheit und im Verlangen, sie zu erhellen, sollen die folgenden Thesen in Wittenberg disputiert werden."

Ihre Sprengkraft verlieren sie freilich nicht, selbst wenn sie nicht von Luther höchstpersönlich an die Kirchentür geschlagen wurden. Deutlich wird in ihnen nicht nur eine fundamentale Kritik an der Ablasspraxis, sondern auch ein tiefes Misstrauen gegenüber dem Papst als Stellvertreter Gottes auf Erden.

Zu hinterfragen ist aber nicht nur das Ereignis selbst, sondern auch das Geschichtsbild, das in der Legende offenbar wird: Kann ein einzelner Mann die Geschichte wenden? Die moderne Geschichtswissenschaft ist davon nicht überzeugt und fragt vielmehr, wie aus den Reformanliegen eines Wittenberger Professors eine gesellschaftsverändernde Reformation wurde. Die Antwort muss lauten: Politische und religiöse Interessen trafen zum richtigen Zeitpunkt aufeinander.

Hundert Jahre zuvor hatte in Böhmen Jan Hus versucht, eine Kirchenreform anzustoßen - und wurde bei lebendigem Leibe verbrannt. Ein ähnliches Schicksal hätte auch Luther gedroht, wenn der Kurfürst von Sachsen nicht seine schützende Hand über ihn gehalten hätte.

Die katholische Kirche und der Apostolische Stuhl standen seit Jahrzehnten unter enormem Reformdruck. In Deutschland manifestierte sich ab Mitte des 15. Jahrhunderts Kritik am Machtanspruch des Heiligen Stuhls, am Pfründehandel und der Kapitalisierung des Heilsversprechens. Das "Heilige Römische Reich deutscher Nation" war zu dieser Zeit ein "lockerer Verbund von zahllosen einzelnen Staaten", sagt der Historiker Volker Reinhardt. "Der Kaiser war eine lose Verklammerung des Reiches." Für den Historiker ist klar, dass der Kaiser den Machtkampf mit den Fürsten verlor. Friedrich der Weise etwa war ein äußerst geschickter Politiker. Er sträubte sich dagegen, die päpstliche Rechtsprechung in seinem Territorium durchzusetzen und bewahrte Luther damit vor dem Scheiterhaufen. Auch Luther sah den Adel in der Pflicht, das Evangelium durchzusetzen.

Die Kirche war im späten Mittelalter die eigentliche Bezugsgröße: Sie war die Institution der Wahrheit, des Wissens und der Macht. Sie steuerte das Leben des Einzelnen von der Geburt, Taufe, Eheschließung bis zum Tod. Sie vertrat auch einen weltlichen Machtanspruch. Das Kirchenoberhaupt war gleichzeitig Herr über den Kirchenstaat.

Die Menschen in der Gesellschaft um 1500 zitterten vor dem Fegefeuer, hatten Angst vor dem Teufel und erwarteten den Weltuntergang. Deswegen investierten sie in ihr Seelenheil, kauften Ablassbriefe, pilgerten zu Wallfahrtsorten. Die es sich leisten konnten, stifteten Altäre oder Kunstwerke für die Kirchen, bezahlten Priester, die Privatmessen halten und an ihrer statt für ihr Seelenheil beten sollten. Von der Ablasspraxis der Kirche profitierte nicht nur der Papst, sondern auch die Kirchenfürsten vor Ort.

"Urban Event"

Die Zeit um 1500 war geprägt von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Denn parallel entwickelten sich die Städte im Reich zu Zentren des Handels und der Bildung. Ein frühkapitalistisches Wirtschaftssystem entstand, die Familie Fugger aus Augsburg finanzierte durch ihr Kreditgeschäft den Kaiser und den Heiligen Stuhl gleichermaßen. 1492 hatte Kolumbus Amerika entdeckt. Die Renaissance fand ihren Weg ins Reich. Der Humanismus mit dem Ideal eines gebildeten Menschen mit freiem Willen löste eine Bildungsoffensive aus. Und so wurden gerade die Städte Schauplätze der Reformation. Die historische Forschung spricht daher von der Reformation als "urban event".

Luthers Rechtfertigungslehre und seine Skepsis gegenüber kirchlicher Eliten zielten darauf ab, zu den Ursprüngen der Kirche zurückzukommen. "Reformation" bedeutet wörtlich Wiederherstellung. Für ihn war allein die Bibel wahr, und zwar so, wie er sie auslegte.

Luther war Fundamentalist. Nicht einer, der Kirchen in Brand steckt und Altäre zertrümmert, sondern einer, der sich auf die Ursprünge des Christentums besinnt und die Kirche als gewachsene Institution und ihr Heilsmonopol in Frage stellt. Damit waren seine Thesen von Anfang an ein Affront für die Kirche. Rom sah in Luther nur einen "Barbaren", der sich anmaßte, die Kirche herauszufordern.

Der Papst im fernen Rom und seine Stellvertreter im Reich stigmatisierten Luther von Beginn an als Ketzer. Das und die Wittenberger Druckerei trugen dazu bei, dass sich seine Schriften rasend schnell verbreiteten. "Luther war ein Mediengenie. Er war das Sprachrohr seiner Zeit", sagt Volker Reinhardt. "Er erfand mit dem illustrierten Flugblatt ein neues Medium und publizierte in einer Dichte, die selbst heute noch beeindruckt."

Mit Luthers Schriften entstand eine Dynamik, die mit dem Augsburger Religionsfrieden in das konfessionelle Zeitalter mündete: Im Jahr 1555 wurde die evangelische Konfession endgültig anerkannt und festgelegt, dass künftig der Fürst über die Konfession seiner Untertanen entscheiden durfte. Eine Entwicklung, die der rebellische Professor aus Wittenberg am 31. Oktober 1517 sicher nicht vorausgesehen hatte.

(heif)
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