Gastbeitrag von Johann Hinrich Claussen Luther, der Anti-Fundamentalist

Düsseldorf · Mit großer Inbrunst wird derzeit Martin Luther als erster Wutbürger der Neuzeit gefeiert. Das ist aber zu kurz gesprungen: Er war zwar nicht tolerant in unserem heutigen Sinn, aber er hat sich stets bemüht, Maß zu halten. Ein Gastbeitrag des Kulturbeauftragten der Evangelischen Kirche.

 Martin Luther - illuminiert in der Church Night in Hünger (Archivbild).

Martin Luther - illuminiert in der Church Night in Hünger (Archivbild).

Foto: Jürgen Moll

Jedes Jubiläum hat seine Mode. Das Reformationsjubiläum macht da keine Ausnahme. Die Erinnerung an Martin Luthers Geburt oder seinen Thesenanschlag hat im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Moden hervorgebracht: Aufklärerische, pietistische, nationalistische, antisemitische oder sozialistische Zeitgeschmäcker haben das jeweilige Gedenken geprägt. Eigentlich bestünde in diesem Jahr die Chance, aus dem Reformationsjubiläum endlich eine unmodische Angelegenheit zu machen. Denn niemand wird mehr leugnen, dass das zu feiernde Ereignis 500 Jahre zurückliegt und die Reformatoren sehr ferne Gestalten sind, deren Botschaften sich nicht flott aktualisieren lassen.

Leider kann man aber auch aus der historischen Fremdheit eine neue Mode machen. So feiern zurzeit einige Journalisten mit seltsamer Begeisterung den fremden, abgründigen und brachialen Luther. Sie sehen in ihm den ersten Wutbürger der Neuzeit. Sie erbauen sich an seinem Zorn und seinen Polemiken. Er soll ihnen vielleicht als Vorbild für ihre Windmühlenkämpfe gegen den "Zeitgeist" dienen, als Unterstützer in ihrem Widerstand gegen die vermeintliche Tyrannei der "politischen Korrektheit".

Besonders gern bringen sie ihren Wut-Luther in Stellung gegen die ach so zahme und angeblich grünlinksliberal evangelische Kirche der Gegenwart. Das ist der Grundtenor der aktuellen Jubiläumskonfektion der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", von "Focus" und "Cicero". In erstaunlicher Einigkeit präsentieren sie Luther als "konservativen Revolutionär", der das Gegenbild zum lauwarm-progressiven Mainstream-Protestantismus bilden soll.

Zu geringes Verständnis für Luthers Theologie

Ähnliches liest man in den wenig geglückten Luther-Büchern von Georg Dietz, Joachim Köhler oder Willi Winkler. Doch ist das nicht etwas töricht? Denn mit "konservativer Revolution" bezeichnet man eine Gruppe rechter Sonderlinge, die in den 1920er Jahren der Hitler-Diktatur zugearbeitet haben. So viel historische Bildung wäre den Meinungshändlern von heute doch zu wünschen. Wollen sie tatsächlich Luther für diesen epochalen Irrweg verantwortlich machen oder ihn gar zum Wegbereiter der AfD erklären? Zumindest zeigen sich hier ein unglücklicher Umgang mit historischen Etiketten und ein viel zu geringes Verständnis für Luthers Theologie.

Luthers theologische Leistung besteht darin, dass er einen christlichen Anti-Fundamentalismus begründet hat. Natürlich war er nicht tolerant oder modern im heutigen Sinn. Aber er hat aus den Quellen des eigenen Glaubens Vorstellungen geschöpft, die zu einem im Prinzip gewaltfreien Monotheismus geführt haben.

Dabei hatte gerade das, was auf heutige Leser so "konservativ" wirkt, bei ihm einen befreienden und gewalthemmenden Sinn. Zum Beispiel seine Hingabe an die Bibel, die uns fast als "biblizistisch" erscheint: Die unbedingte Bindung an die Heilige Schrift hatte für ihn das Ziel, die Christen von der Kirche zu emanzipieren. Denn Luther sah in der Heiligen Schrift den besten Maßstab, mit dem man kirchliche Fehlentwicklungen messen und klerikale Herrschaftsansprüche zurückweisen kann: "Die Schrift macht die Gewissen frei und verbietet, sie mit Menschenlehren zu fangen."

"Glaube gegen den Augenschein"

In der Bibel findet Luther eine Offenbarung bezeugt, die nicht als betonhartes "Fundament" dienen kann. Die Bibel verkündigt Jesus Christus, diesen allein. Dieser Christus aber stirbt am Kreuz. Das heißt: Gott, der Ewige und Allmächtige, offenbart sich in einem gescheiterten Wanderprediger, der am Kreuz hingerichtet wird.

Deshalb kann der christliche Glaube nie eindeutig sein. Er ist stets ein "Glaube gegen den Augenschein". Er trägt den Widerspruch gegen sich immer in sich. Denn der Glaubensgegenstand selbst ist widersprüchlich. Gott offenbart sich nur "in der Gestalt seines Gegenteils". Das ist die christliche Botschaft vom Kreuz. Indem Gott sich so offenbart, durchkreuzt er alle menschlichen Versuche, ihn zu vereinnahmen. Luthers Glaube an eine göttliche Offenbarung, die sich "in der Gestalt des Gegenteils" zeigt, gründet sich also auf einem "Fundament", das sich jedem menschlichen Zugriff entzieht. Es lässt sich nicht theologisch festschreiben, kirchlich verwerten und für eigene Interessen benutzen. Vor allem kann man es nicht als Waffe in religiös-politischen Kämpfen einsetzen: "Ich kann keinen in den Himmel treiben oder mit Knüppeln dahin schlagen."

Wie Paulus war Luther davon überzeugt, dass Gottes Kraft in den Schwachen mächtig ist und in den Mächtigen schwach. Trotz seiner Neigung zu extremer Polemik - vor allem in seinen letzten Lebensjahren - war Luther eben kein christlicher Taliban. Im Gegenteil, er hat sich aus theologischen Gründen radikalen Konsequenzenmachern, Bilder- und Orgelstürmern und anderen frühneuzeitlichen Fundamentalisten entgegengestellt. Er hat sich der eigenen Hitzköpfigkeit zum Trotz darum bemüht, genau zu unterscheiden, das Maß zu wahren, Rücksichten zu nehmen und - wo möglich - Kompromisse zu finden.

Man sollte sich von seinen Verbalexzessen nicht täuschen lassen: Luther war weder konservativ noch revolutionär, sondern wollte auf seine Weise nichts weiter als ein Christ sein, also ein freier Herr und zugleich ein dienstbarer Knecht. Offenkundig haben zurzeit andere Stimmen Konjunktur, feiern Hass- prediger und Hasspredigerinnen aller Couleur große Erfolge. Gerade deshalb ist es so wichtig, schein-konservativen Jubiläumsmoden zu widersprechen und daran zu erinnern: Luthers Reformation steht für ein anti-fundamentalistisches Christentum.

(RP)
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