Düsseldorf Martin Schläpfer spielt "Reise nach Jerusalem"

Düsseldorf · In seinem neuen Ballettabend "b.17" an der Rheinoper hat sich Martin Schläpfer die 7. Sinfonie von Gustav Mahler vorgenommen und forscht nach dessen jüdischen Wurzeln. Doch damit lastet er sich ein schweres Thema auf.

Am Anfang steht der Tanz. Noch bevor das Tenorhorn zu klagen beginnt, die Streicher losmarschieren und die ersten Fanfaren aus Mahlers 7. Sinfonie zur Attacke blasen, krabbelt ein Mensch auf die Bühne, in geduckter Haltung, Stiefel an den Füßen. Tänzer in engen Mänteln werden folgen, dann zwei, deren Oberteile aus stilisierten jüdischen Gebetstüchern geschneidert sind. Und schon haben der Düsseldorfer Ballettchef Martin Schläpfer und sein Bühnenbildner Florian Etti aus Gustav Mahler, dem spätromantischen Komponisten mit jüdischen Wurzeln, einen jüdischen Komponisten gemacht.

Dabei war Mahler 1897 zum Katholizismus konvertiert, weil er dieser Zuschreibung entkommen wollte. Weil er beständig antisemitischen Schmähungen ausgesetzt war. Er musste erleben, wie seine Gegner das Neuartige seiner Musik, die harmonische Brüchigkeit, die kühne Schichtung von Zitaten, seine Hybris, die ganze Welt in die Musik holen zu wollen, als "uneuropäisch" verunglimpften. Wie sie ihn nicht als Künstler behandelten, sondern als Juden — und damit einen der Größten ihrer Zeit verpassten.

Trotzdem interessiert sich Martin Schläpfer in seinem neuen Ballettabend "b.17" an der Düsseldorfer Rheinoper für das Jüdische in Mahlers Werk. Natürlich ist das legitim. Doch ein Choreograf kann nur in Bildern sprechen. Und wenn er die mit jüdischen Versatzstücken versieht, lädt er sich unweigerlich auch die Geschichte des 20. Jahrhunderts auf seine Schultern. Alles andere wäre Folklore. An dieser Last aber trägt sein Abend schwer.

So sieht man dann nämlich traumhaft schöne Sequenzen: Zwei Männer tragen eine Frau, die kippt nach vorn wie tot, wird erst als Leichnam geschultert, dann rollt sie sich auf den Rücken eines Tänzers, bäuchlings streckt sie die Arme aus, wie ein Kind, das Flieger spielt, treibt sie nun dem Himmel entgegen, streckt die Arme zum Höchsten aus, ist fast erlöst, als das Bild zerspringt, die Tänzer brutal stürzen, am Boden in ruckartige Bewegungen verfallen. Da geht in moderner Fragmentierung aller Glaube an die Ewigkeit zu Grunde. Und in wenigen Sekunden ist alles über Mahler erzählt.

Doch die Tänzer tragen diese jüdische Mode, und so weckt diese Szene auch Assoziationen zum Mord an den Juden. Der war aber nun mal kein individuelles Schicksal, sondern der massenhafte Mord aus Rassenhass, das barbarische Gesicht der Moderne. Und auf einmal wirkt Schläpfers Szene zu poetisch für die Geschichte.

Man kann in Mahlers Musik nach Zitaten aus jüdischer Musiktradition suchen, nach Orientalischem, auch nach den grellen Klängen der Moderne, dem Marschieren, der Ahnung, dass diese neue Zeit Opfer kosten wird. Generationen von Musikwissenschaftlern, auch Philosophen haben das getan. Doch gerät ein Choreograf dann in politische Diskurse, er stößt an die Frage, was nach Auschwitz darstellbar ist, und damit sehr weit weg von der Musik. Schläpfers große Kunst besteht aber darin, nach der Essenz einer Komposition zu forschen, sie auch aus großen sinfonischen Brocken zu destillieren und Rhythmen, Klangfarben, ja die Struktur eines Werkes in Bilder zu verwandeln.

Das gelingt ihm auch mit Mahlers so vielgestaltiger 7. Sinfonie wieder mit Ernst und Humor, mit erzählerischen Episoden und abstrakten Formationen. Man kann wieder staunen, wie der Ballettdirektor es schafft, seine Bildwelten vollkommen eigensinnig neben die Musik zu stellen und doch alles aus der Partitur schöpft.

Schläpfer hat dieser Sinfonie, die den Beinamen "Lied der Nacht" trägt, auch manche heitere Szene abgetrotzt, ein wenig Kuhglocken-Seligkeit, Küsschen bei der Landpartie, das ist neckisch, doch nie naiv. Und dann holt er wieder das ganze Ensemble auf die Bühne, entwickelt diese berauschenden Gruppenbilder, zeigt stolz seine Kompagnie mit elf neuen Tänzern. Das reißt mit, zumal ihm Etti ein streng reduziertes, überaus wirkungsvolles Bühnenbild aus Glaslamellen geschaffen hat, das auch dem Licht die Bühne bereitet. Und dann schlagen sich Mahlers Nachtklangfarben im Raum für die Tänzer nieder.

Generalmusikdirektor Axel Kober geht mit frischer Rasanz ans Werk, hat ungekünstelte Freude an den deftig ländlichen Partien und beweist Geschmack in den himmelwärts wuchernden Passagen. Allerdings kann das Orchester nicht immer mithalten, da grummelt es dann mal in den Klarinetten oder bei den finalen Fanfaren. Doch die abrupten Stimmungswechsel, Mahlers fein abgetönte Klangfarbenmalerei liegen den Düsseldorfer Symphonikern.

Und dann verklärt der Komponist die komplexe Gebrochenheit seine Werks in einem unglaublichen C-Dur-Finale so gleißend hell, dass es schmerzt. Dem setzt Schläpfer Dunkelheit entgegen und schickt seine Tänzer im Dämmerlich auf die "Reise nach Jerusalem". Wieder in Schnürstiefeln und Reisemänteln umrunden sie einen Stuhlkreis, spielen ein Kinderspiel, dessen Name an den Exodus der Juden nach Palästina erinnert. Die Unschuld ist brüchig — doch wieder erscheint das Bild zu leicht für die Schrecken, auf die es anspielt.

(RP)
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