Remagen Menschenskinder

Remagen · "Kinderleben zwischen Wunsch und Wirklichkeit" heißt eine berührende Schau in Remagen. Sie zeigt Fotografien von Kindern aus Krisengebieten.

Wenn die Kunstkammer Rau dem Publikum wieder einmal einen Teil ihrer Schätze preisgibt, darf man Großes erwarten. Denn was Gustav Rau (1922-2002), einst Kinderarzt im Kongo, der Unicef an Kunst vermacht hat, zeugt von Geschmack, Fachkenntnis und Menschenliebe. Ein Teil der Sammlung ist inzwischen für hohe Summen zugunsten des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen versteigert worden, der Kern aber bleibt dem lange Zeit umstrittenen Testament zufolge bis 2026 im Arp-Museum Rolandseck.

Dort steht die Kunstkammer Rau diesmal unter dem Motto "Menschenskinder". Mit dem Untertitel "Kinderleben zwischen Wunsch und Wirklichkeit" stellt sie sich damit erstmals unmittelbar in den Dienst von Unicef, denn genau darum geht es dem internationalen Hilfswerk: die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit zu verringern und Kindern in aller Welt ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Mancher Maler hat dieses Ideal schon in früheren Jahrhunderten verewigt. Fotografien von Kindern aus Krisengebieten von heute dagegen verdeutlichen schmerzlich, wie sehr das Ideal in vielen Fällen bis heute ein Ideal geblieben ist.

Boten die Ausstellungen der Kunstkammer bislang einen Augenschmaus, so mischen sich jetzt in den Kunstgenuss die Stachel der krisengeschüttelten Wirklichkeit. Jedem Gemälde aus der Vergangenheit ist eine Fotografie aus der Gegenwart an die Seite gehängt. Und wer genau hinschaut, wird feststellen, dass auch die prächtige Malerei von ehedem nicht nur Idyllen vorstellt, sondern oftmals Gewalt und Krieg als Alltag schildert. Den Anfang der abendländischen Kindermalerei markiert als Motiv das Kind schlechthin: das Jesuskind. Im Bild verkörpert es religiöse Hoffnungen und zugleich ein allgemeinmenschliches Ideal: das Kind, geborgen in den Armen der Mutter. Die "Madonna mit Kind und Seraphim" aus der Werkstatt von Pietro Perugino (um 1500) zeugt davon, auch "Louisa, ihr Kind stillend" (1898/99) von Mary Cassatt - keine religiöse Kunst, aber doch unverkennbar ein Gemälde, das sich auf die christliche Tradition bezieht.

Gleich zu Beginn der Ausstellung mischen sich in diese Harmonien schrille Töne, zum Beispiel in Gestalt von Philippe Braults bereits 2007 entstandener Fotografie "Syrien: Ein neues Zuhause nach der Flucht?". Auf einem Sofa hält eine Mutter ihr verängstigtes Kind umfangen. Der Katalog erklärt den Hintergrund: Shaden, die Tochter von Sana und Taher, wurde als Dreijährige über einige Tage von einer bewaffneten Gruppe im Irak gekidnappt. Dort herrschte nach dem 2003 offiziell erklärten Kriegsende Bürgerkrieg. Nach der Entführung war Shaden so verstört, dass sie mehr als einen Monat lang nicht sprechen konnte. Im Juli 2007 floh die Familie aus Irak nach Damaskus und hoffte auf ein neues Leben. Ob sie heute noch dort lebt? Oder gerade auf einem Schiff in Richtung Deutschland flieht?

Das ist nicht das einzige Fragezeichen, das die Ausstellung setzt. Wenige Schritte weiter trifft man auf das "Porträt eines Paares mit Kind" (1675) von David van der Plaes. Der niederländische Maler hat die Familienidylle als Keimzelle des Staates dargestellt: Vater und Mutter begleiten den kleinen Sohn fürsorglich in ein selbstbestimmtes Leben. Auf einer Fotografie daneben scheint ein Mädchen auf diesem Weg allein gelassen zu sein. Rania Matar hat die 15-jährige, Kopftuch tragende Palästinenserin Amal in ihrem westlich ausstaffierten Kinderzimmer abgelichtet. In einem Flüchtlingslager erzählte Amal über sich: "In der Schule gab man mir den Schleier. Meine Eltern waren anfangs dagegen. Dann wollte meine Mutter, dass ich ihn nicht mehr abnehme. Nun will ich ihn nicht mehr, kann ihn aber nicht abnehmen." Amal sähe gern aus wie die Helden der Pop-Kultur, deren Porträts hinter ihr an ihrem Kleiderschrank kleben.

Schon im 19. Jahrhundert war auch der Westen nicht so, wie ihn mancher heute aus der Ferne verherrlicht. Stanislas Lépine zeigt in seinem Gemälde "Die Rue du Mont-Cenis auf dem Montmartre" eine Straße mit schlichten grauen Häusern, an der Tagelöhner ihr Leben fristen. Im Vergleich zur Szene in Niclas Hammarströms Fotografie "Syrien: Heimat verlassen", dem "Unicef-Foto des Jahres" 2013, ist der Montmarte von damals eine Idylle: In Aleppo setzte der Fotograf eine vierköpfige Familie von hinten ins Bild, zwischen Schutt von Häusern, die dem Krieg zum Opfer gefallen sind.

Mit diesem vergleichenden Blick durchschreitet man die gesamte Ausstellung. Zu den künstlerischen Glanzlichtern zählen Pietro Longhis Gemälde "Il Ridotto", das bunte Treiben eines venezianischen Maskenballs, außerdem Giandomenico Tiepolos "Allegorisches Porträt einer jungen Frau als Flora" und Guido Renis brutal plakative Darstellung "David, Goliath enthauptend". Das Bild aber, das die Schau auf ihrem Werbeplakat trägt, verkündet Zuversicht: August Mackes "Clown in grünem Kostüm" von 1912. Macke, der zwei Jahre später 27-jährig als Soldat des Ersten Weltkriegs in der Champagne fiel, zeigt einen Jungen in Karnevalsverkleidung - eine Hommage ans rheinische Brauchtum, das seinem Naturell entsprach. Fröhlichkeit inmitten der Trauer ist auch Thema von Chris de Bodes Fotografie nebenan: "Kinderträume: My-Taelle träumt davon, Clown zu werden". Vor armseliger Kulisse gibt sich ein Mädchen notdürftig den Anschein eines Clowns und bringt die Kinder ringsum zum Lachen. My-Taelle ist zehn Jahre alt und lebt mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern in Haiti. Ihr Vater hat die Familie verlassen. Nach dem Erdbeben des Jahres 2010 hatte sie nicht mehr die Chance, eine Schule zu besuchen. Inzwischen sind neue Klassenzimmer geschaffen. My-Taelle ist sich bewusst, dass viele Kinder in ihrem kleinen Publikum Angehörige verloren haben. Wenn sie in lachende Gesichter blickt, weiß sie, dass die Schrecken der Vergangenheit vergessen sind, zumindest für diesen Augenblick.

(B.M.)
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