Bayreuth Müssen Opernsänger auf die Waage?

Bayreuth · Opern enttäuschen den Realitätssinn immer, der Zuschauer muss stets an das Märchenhafte glauben. Deshalb darf Verdis Mohr Otello weißhäutig sein, Mozarts Pamina schwanger und Strauss' Rosenkavalier rundlich.

Im vergangenen Jahr sang bei den Bayreuther Festspielen der vermutlich dickste Tenor der Welt, der Südafrikaner Johan Botha. Er gab in der Oper "Walküre" die Partie des jugendlichen Helden Siegmund; der ist in Wagners Welt wie jeder seiner Tenöre impulsiv, tatendurstig und unreflektiert. Dem Komponisten schwebten stets reckenhafte Männer jüngeren Alters als Sänger vor; so hatte Wagner bei dem damals berühmten Tenor Ludwig Schnorr von Carolsfeld arges Bauchweh, weil der Mann rundlich war. Er sang dann doch die Uraufführung des "Tristan", und Wagner lernte ihn lieben. Auch im Sommer 2014 wird Botha in Bayreuth singen, und spätestens wenn er den Mund aufmacht und ihm Töne wie aus Bronze entströmen, schmilzt der Saal dahin. Dann gilt die Optik nichts.

Die englischen Musikkritiker sind anders gepolt. Sie sind berühmt für ihre Lust an der Aggression und haben jetzt der jungen Mezzosopranistin Tara Erraught - sie sang den Octavian im "Rosenkavalier" in Glyndebourne - eine Breitseite an Sexismus mitgegeben: Der "Daily Telegraph" monierte ihre "plumpe Statur" und Ähnlichkeit mit Figuren aus Kinderbüchern. Die "Times" befand, Frau Erraught sei "unansehnlich und unattraktiv", und die "Financial Times" ätzte: "Molliges Bündel aus Babyspeck".

Die Debatte wird auch in den Musikmetropolen wie Mailand, Wien oder Paris geführt. Die Frage lautet dort hinter vorgehaltener Hand: Sollten Opernintendanten dafür sorgen, dass Rolle und Interpret figürlich harmonieren, damit die Vorstellungskraft des Publikums nicht leidet? Indes las man aus London kaum eine Zeile, dass Erraught eine der derzeit aussichtsreichsten Stimmen in der Opernwelt besitzt. Sie ist Mitglied der Bayerischen Staatsoper, und alle Bilder, die es von ihr gibt, sagen klar: Mager ist sie nicht. Aber auch nicht dick. Es mag sein, dass es für eine Hosenrolle wie den Octavian im "Rosenkavalier" (Frau in Männerkleidern singspielt einen Mann, der sich als Frau verkleidet) vielleicht filigranere Interpretinnen gibt, aber Tara Erraught hätten wir dennoch gern in dieser Rolle gesehen und gehört.

Die Schelte der englischen Kollegen ist nicht nur unbritisch und sehr unfein, sie dokumentiert auch ein geradezu beispielhaftes Missverständnis der Materie. In der Oper geht es gerade um Phantasiewelten, in denen das Unglaubliche vor unseren Augen Ereignis wird. In neun von zehn Opern passieren Dinge, die an den Haaren herbeigezogen sind - aber mit kindlicher Euphorie glauben wir sie, akzeptieren für drei Stunden Undenkbares als realistisch und erteilen jedem Theatermacher dafür die Lizenz.

Doch leider sitzt in manchem Zuschauerkopf ein Buchhalter, der sich vor angeblich übergroßen Zumutungen fürchtet. Die farbige Sängerin Grace Bumbry wurde 1961 in Bayreuth durch einen leisen Skandal weltberühmt, weil sie dort die Partie der Venus im "Tannhäuser" gab. Wieder anderswo geht noch heute ein Zischen durchs Parkett, wenn ein Otello eben kein Mohr oder nicht einmal mit Theaterfarbe bemalt, sondern ein blonder, hellhäutiger Schwede ist. Darf das Auge so betrogen werden?, fragen die Leute. Man möchte im Gegenzug fragen: Steckt nicht in jedem von uns ein Otello?

Das Pikante an der aktuellen Debatte aus England ist die Tatsache, dass die musikkritischen Beschwerdeführer allesamt reife Herren von nicht gerade athletischer Gestalt sind. Trotzdem sollten wir nicht nur über die Fachpresse aus London schimpfen. Auch in deutschen oder österreichischen Blättern detonierte etwa während Anna Netrebkos Schwangerschaft die Fachdiagnose, die Künstlerin passe nicht mehr ganz ins Kostüm. Anderseits waren Formulierungen wie diejenige, dass ihr Gesang jetzt "mehr Gewicht und Fülle" habe, überaus zulässig. Gesangstechnisch verändert eine neue Hormon- und Körpersituation eine weibliche Singstimme deutlich. Manche Sopranistin kehrt aus der Schwangerschaft als hochdramatischer Alt aufs Podium zurück.

Tatsächlich sind Sänger in der Regel körperbewusste Menschen, die freilich unterschiedliche Strategien entwickelt haben, die Frage zu beantworten: Wann esse ich, wenn ich abends Vorstellung habe? Viele Musiker sitzen hernach noch beim Italiener, und man muss kein Ernährungsmediziner sein, um zu wissen, dass sich späte Nahrungsaufnahme auf den Hüften oder am Bauch niederschlägt.

Zugleich ist auch in der Klassikwelt der Typus des Fotomodells eingezogen. Anna Prohaska, Sopranistin der Staatsoper Berlin, erscheint auf CD-Covern gern in fast transparenten Textilien. Auch andere Damen lassen sich gern in erotischer, sinnlich lockender Pose ablichten, etwa Simone Kermes, Elina Garanca, Miah Persson oder Joyce DiDonato. Was da nicht ganz optimal aussieht, wird per Photoshop passend gemacht. Und der Tenor Jonas Kaufmann wird auf Plakaten allerorts als viriler Protz gefeiert.

Früher redete man darüber bloß am Rande, man hörte vor allem auf Stimmen - und da standen Montserrat Caballé und Luciano Pavarotti, beide keine Hungerleider, auf der Bühne und hatten nur im Moment der Umarmung Probleme, und zwar mit ihren Armlängen. Hat das jemanden gestört? Nein. In ihren Duetten erlebte man die perfekte Verschmelzung, wie sie keine körperliche Berührung zustande bringt.

Neulich erlebte der Autor dieser Zeilen einen Hänfling als Falstaff (den feisten Ritter in Verdis Oper). Der Regisseur hatte seine Inszenierung absichtsvoll geändert, weil sich am Haus kein dicker Bass gefunden hatte. Das war originell. Kein Rezensent schrieb etwas vom "Klappergestell". Die britischen Kollegen waren nicht da. Hätten sie gelästert? Wer weiß das schon.

(RP)
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