Oper Der erste Takt

Düsseldorf/Duisburg · Was macht ein Dirigent vor dem ersten Takt einer Aufführung? Wem gibt er die Hand? Was bedeuten seine Gesten? Von diesem einzigartigen Beginn hängt nicht selten das Gelingen eines ganzen Abends ab. Wir beobachten Axel Kober, den Generalmusikdirektor der Rheinoper Düsseldorf/Duisburg, bei einer Aufführung von Mozarts "Zauberflöte".

Der erste Takt einer Aufführung
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Der erste Takt einer Aufführung

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Wilhelm Furtwängler machte beim Dirigieren oft eigenartige Bewegungen. Wer damit nicht vertraut war, konnte schon mal in die Irre blasen oder streichen. Einmal leitete der berühmte deutsche Dirigent ein fremdes Orchester, und schon der erste Einsatz wollte nicht klappen. Da fragte der Konzertmeister höflich: "Herr Doktor, bei welchem Zacken Ihres Blitzes sollen wir einsetzen?" Für die Wiener Philharmoniker war es hingegen klar, wann sie bei Furtwängler-Einsätzen losspielten. Wie sagte einmal einer ihrer Konzertmeister zu einem jüngeren Kollegen: "Dann, wenn's uns zu bled wird!"

Egal ob bei Furtwängler, bei Karajan oder bei Harnoncourt: Den ersten Takt einer Aufführung halten viele Fachleute insgeheim für den wichtigsten. Klingt er fabelhaft, wird sich das Orchester bemüßigt fühlen, dieses Niveau zu halten. Klappert es dagegen quer durch die Reihen, geht durchs Hirn vieler Musiker ein Seufzen: Na, das wird ja wieder ein schöner Dienst. Viele Musiker sind von Herzen Utopisten: Sie sehnen sich danach, an einem denkwürdigen Abend teilhaben zu dürfen. Aber manchmal werden sie überraschend desillusioniert; dazu reicht ein Takt, meistens der erste. Selbstverständlich können Abende nach einem mauen Beginn an Niveau und Fahrt zunehmen, das ist aber die Ausnahme.

Der erste Ton ist nackt, blank und jungfräulich

Ja, manchem Anfang wohnt kein Zauber inne. Die Bläser können in der Intonation untereinander noch nicht optimal justiert sein, ein Musiker ist vielleicht wegen eines Staus ziemlich spät gekommen und sein Instrument noch nicht warm, anders als dasjenige seiner Nachbarin. Ein weiterer Musiker ist vielleicht geistig noch in der Kantine und verpennt den Beginn. Nach dem ersten Ton weiß man in der Regel, wie der zweite klingen wird. Aber beim ersten geht das nicht, er ist nackt, blank und jungfräulich; es besteht erhöhte Gefährdungslage. Er zwingt nämlich jedes Orchester zu einem Kaltstart.

Der erste Takt unterliegt in höchstem Maße der Organisation durch den Dirigenten. In diesem Takt zeigt sich, wohin er will. Er markiert sein Tempo. Er definiert den Geist, das Klima, die Atmosphäre. Gerät ihm der Beginn dieser "Zauberflöte" festlich oder gleißend? Ahnungsvoll oder positivistisch? Sollen die Streicher gedrillt auf einem Tick, auf einem Punkt gemeinsam einsetzen, oder dürfen sie jene fast irrealen Mikrosekunden nacheinander zu spielen beginnen? Dadurch stellt sich wegen des physikalisch eigenwilligen Einschwingvorgangs jedes Streichertons ein breiterer, wärmerer Klang ein.

Solche Freundlichkeit fürs raffiniert Nachlässige, zugleich schön Klingende ist dem Dirigenten Christian Thielemann eigen. Den lieben die Streicher der Berliner Philharmoniker gerade, weil er ihnen die Freiheit dieser intelligenten Unschärfe gestattet; Musik darf im Fluss entstehen und daraus Sogkraft entwickeln. Thielemann tickt nicht grundlos so: Erstens ist er ein Fan von Furtwängler; zweitens, das muss man wissen, ist er studierter Bratscher.

Sein geheimer Widersacher um den Chefposten in Berlin ist der lettische Dirigent Andris Nelsons, den in diesem Edelorchester vor allem die Bläser schätzen. Er ist gelernter Trompeter. Nelsons liebt es nicht unbedingt laut, aber hochpräzise. Bei Nelsons klackern die ersten Takte nie, alles trifft sich tatsächlich auf einen Schlag. Das Orchester als Versammlung von Präzisionsinstrumenten. Welche Version ist schöner, musikalischer? Kein Mensch kann das entscheiden.

Man sollte nicht meinen, dass mehrere Musikwerke, die alle mit einem Orchesterklang in Es-Dur beginnen, automatisch ähnlich klingen. Der Urakkord von Mozarts "Zauberflöten"-Ouvertüre ist ein ganz anderer als derjenige zu Beginn von Mozarts 39. Sinfonie Es-Dur, in welcher der Komponist die Bläser klanglich stärker zwischen Diskant und Bass spreizt. Diese Sinfonie wird sich wie die Ouvertüre gleich aus sich selbst heraus heftig entwickeln, beide Werke werden ins Dickicht der Chromatik eindringen, bis irgendwann eine flinke Melodie im Allegro dieses Lastende ablöst. Hören wir dagegen den ersten Es-Dur-Akkord in Beethovens 3. Sinfonie, der "Eroica", so darf ein Orchester nicht säumen, nicht lange fackeln; das Tempo ist brandig, diese Musik handelt von Politik und vom Primat schnellen Handelns, es liegt Dringlichkeit in der Luft, ein Hauch von Revolution - in der "Eroica" darf ein Akkord keinesfalls wummern, instabil sein. Er ist eine Mischung aus Pistolenschuss und Aufbruchssignal - dieser Akkord macht Schluss mit lustig.

So unterschiedlich alle Musiken, so unterschiedlich auch die Dirigenten. Mancher Pultstar steht dermaßen unter Strom, dass er, kaum hat er das Pult erklommen, bereits in seinen Einsatz hineinspringt - und wehe, er hat das Orchester nicht gebrieft. Bei ihm will Musik heraus, sie war vorher schon in ihm, sie brodelte, das Überdruckventil pfiff bereits. Solcher Enthusiasmus kann allerdings auch eine Pose sein.

Früher wurde der Taktstock zur Zuchtrute

Viele andere Künstler legen hingegen Wert auf Sammlung, auf eine kurze Meditation, auf ökonomische Harmonie. Sie wollen, dass der erste Takt kollektiv optimal vorbereitet ist; dass alle sich besinnen, wohin gleich die Reise geht. Der Blick dieser Dirigenten wandert vor dem ersten Takt durch die Reihen - wohlwollend, seriös, zugewandt, doch nicht kumpanenhaft. Ein guter Dirigent betont auf freundliche Weise den Abstand, denn er muss im Folgenden eine ziemlich große Truppe hinter sich bringen, animieren, inspirieren, traktieren, domestizieren. Früher kam auch das Tyrannisieren dazu, und schon im ersten Takt wurde der Taktstock zur Zuchtrute. Diese Zeiten sind lange vorbei.

Mancher Dirigent möchte dagegen vor dem ersten Takt beruhigt sein. Wird gleich im "Sacre du Printemps" von Igor Strawinsky das musikalische Heidentum ausgerufen, wird der Dirigent vorab Blickkontakt zum Fagottisten aufnehmen, um in dessen Gesicht zu lesen, ob es dem Manne gut geht oder ob er erkennbar Magengrimmen hat. Das Fagott-Solo des "Sacre"-Beginns ist ein lyrischer Ausflug vom Schönsten, es beschwört eine herrlich poetische Ruhe vor dem Sturm, der die Welt erfasst wie eine rhythmische Orgie. Von diesem Fagott-Solo hängt fast alles ab - und wenn der Bläser an diesem Abend in diesem ersten Takt patzt und das Auditorium vor allem über seine Probleme mit seinem Rohr informiert, fällt das auf den Dirigenten zurück - da kann er überhaupt nichts machen.

Axel Kober hat die "Zauberflöte" an der Rheinoper nun schon viele Male dirigiert, immer war die wunderbare Produktion ausverkauft, jetzt hat er sie noch zwei Mal in dieser Spielzeit vor sich. Wie wird der erste Takt in diesen beiden Aufführungen ausfallen? Kein Dirigent wählt identische Tempi, das kann er gar nicht, weil sein Puls nie der gleiche ist.

Eins der letzten Geheimnisse

Vielleicht ist Kober, der Zügige, am kommenden Freitag fast etwas wehmütig, dass er die erste Partiturseite der herrlichen Oper so bald nicht aufschlagen wird, vielleicht wird er sich sogar Zeit nehmen; vielleicht wird schon über dem ersten Takt Melancholie liegen, niemand weiß das vorher, am wenigsten Kober, der zwar ein gründlicher, aber doch auch ein Herzensmusiker ist. Manchmal geht vom Ungeplanten, Unerwarteten unerhörte Magie aus - oder gewaltiger Drive. Das kann sogar in einem so bekannten Werk wie der "Zauberflöte" passieren. Dann könnte dieser humanistisch stabile Es-Dur-Eingang ein Impulsfeuer entzünden, das alle folgenden Takte mit der Kraft einer Explosion von sich schleudert.

Alles hängt also von Kober ab, aber keiner weiß, wie es wird. Der erste Takt ist eins der letzten Geheimnisse.

(w.g.)
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