Arzt-Besuch vor dem Eklat Kümmerts rätselhafter ESC-Verzicht

Hannover · Der Sänger sieht sich dem Druck des Song Contests nicht gewachsen. Ann Sophies Teilnahme steht aber nicht infrage.

Das sagen Twitter-User zu Andreas Kümmert
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Foto: dpa, jol kde

Einer Ehre zumindest kann sich Andreas Kümmert gewiss sein - er wird in die Annalen des Eurovision Song Contest (ESC) eingehen. Denn in der 60-jährigen Geschichte des Musikwettbewerbs hat es zwar schon kleinere Skandale, aber noch keinen Künstler gegeben, der von einer Nominierung zurückgetreten ist. Der 28-jährige Sänger hatte nach dem Gewinn des deutschen Vorentscheids am Donnerstagabend in Hannover erklärt, er sei "nicht wirklich in der Verfassung, diese Wahl anzunehmen".

Das Saalpublikum quittierte seine Entscheidung mit Buh-Rufen, aber auch Applaus. Moderatorin Barbara Schöneberger erklärte unmittelbar nach Kümmerts Verzicht die Zweitplatzierte Ann Sophie zur Siegerin. Sie vertritt Deutschland nun am 23. Mai beim Finale in Wien mit dem Soul-Pop-Song "Black Smoke".

Auch einen Tag nach Kümmerts Entscheidung herrschte weiter Rätselraten über dessen Motive. Der Sänger selbst war abgetaucht, äußerte sich nicht. Sein Manager Siggi Schuller von der Plattenfirma Universal sagte, der Künstler sei ein schwieriger Mensch. Öffentlichkeit sei in seinem jetzigen Zustand heikel. "Die Lampe ist zu groß für ihn, die da angeht. Das Spotlight auf ihm ist das Problem", sagte Schuller. Schon bei der TV-Castingshow "The Voice of Germany", die Kümmert 2013 gewonnen hat, soll ihm der Trubel um seine Person mehrfach zu viel geworden sein.

ESC: "Andreas Kümmert, gehört euch nicht" (Pressestimmen)
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Pressestimmen zu Andreas Kümmerts ESC-Absage

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Noch am Tag vor dem Vorentscheid war er beim Arzt, hatte Proben und Pressekonferenz verpasst. Enttäuschte ESC-Fans kritisierten vor allem, dass der Sänger nicht eine Runde früher ausgestiegen ist, um seinen Konkurrenten einen fairen Wettbewerb zu ermöglichen. Schuller glaubt, dass Kümmert alles geben wollte und zu spät gemerkt habe, dass er es nicht packe. "Als Rock'n' Roller sagt man aber eine Show nicht ab."

Für den Norddeutschen Rundfunk (NDR) als Ausrichter des Vorentscheids kam Kümmerts Entschluss völlig überraschend. "Es war seine Idee, beim ESC dabei sein zu wollen", sagte ARD-Unterhaltungskoordinator Thomas Schreiber. Er habe mit offenem Mund dagestanden, als Kümmert live seine Entscheidung verkündete. "Aber wenn jemand nicht anders kann, müssen wir das akzeptieren", zeigte Schreiber Verständnis. Für den Ausfall eines Kandidaten sei vor der Show über das Prinzip des Nachrückens gesprochen worden, teilte der NDR mit. Daher habe es eine Entscheidungsgrundlage für Barbara Schöneberger gegeben.

Der Vorentscheid sei gültig und werde nicht wiederholt. Auswirkungen auf die ESC-Finalteilnahme hat der Vorfall laut der European Broadcasting Union (EBU) wohl nicht. Vorgaben für die Kandidaten-Auswahl gebe es keine, heißt es, maßgeblich sei der Künstler, der zum Finale erscheine.

Für Nachrückerin Ann Sophie, die wie der Vorjahresbeitrag Elaiza über eine Wildcard in den Vorentscheid kam, bedeutet der unverhoffte Sieg aber auch eine Bürde. Im Finale hatten sich von 1,54 Millionen Anrufern 78,7 Prozent für Kümmert und nur 21,3 Prozent für sie entschieden. Für das Votum in Wien hat das möglicherweise nichts zu bedeuten, denn die 24-Jährige, die optisch ein wenig an die ESC-Gewinnerin Lena erinnert, muss in Europa überzeugen. Andererseits wird ihre Geschichte sich in der ESC-Gemeinde verbreiten - mit welchen Folgen auch immer.

ESC-Experte Jan Feddersen bleibt optimistisch: "Ein Makel haftet nur Zweitplatzierten an, die von Disqualifikationen profitieren, etwa wie die Les Humphries Singer 1976 und die Gruppe Sürpriz 1999." Ann Sophie aber habe die Krone mit Respekt von Kümmert erhalten. Dazu hat sie souverän und bescheiden reagiert, ihren mit sich hadernden Kollegen umarmt und seine Entscheidung verteidigt - nicht nur, weil sie davon profitiere. "Manchmal wissen wir alle nicht, was wir wollen", sagte sie. "Ich finde das megamutig, dass er in dem Moment so auf sein Herz gehört hat."

Sogar für Kümmert mag sich sein Verzicht positiv auswirken. Er hat bewiesen, dass er mit seiner Kunst die Menschen bewegen kann. Und dass er jemand ist, der noch einen eigenen Kopf besitzt. Als Künstler, im gleichgeschalteten Popmusik-Zirkus allemal, könnte sich solch ernsthafte Hingabe auszahlen.

(RP)
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