Eurovision Song Contest Es gibt Schlimmeres als den ESC

Meinung | Wien · In Wien kämpfen am Abend 16 Teilnehmer im ersten Halbfinale des Eurovision Song Contest um den Einzug ins Finale. Warum der Songcontest Kult ist – und was vor allem für die Identifikation mit dem eigenen Künstler wichtig ist.

Eurovision Song Contest (ESC): Unsere Tipps zu den Teilnehmern
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Unsere Tipps zum ESC 2015 in Wien

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In Wien kämpfen am Abend 16 Teilnehmer im ersten Halbfinale des Eurovision Song Contest um den Einzug ins Finale. Warum der Songcontest Kult ist — und was vor allem für die Identifikation mit dem eigenen Künstler wichtig ist.

Man kann den Eurovision Song Contest — kurz: ESC — gucken, muss es aber nicht. Man kann den ESC glorifizieren, weil er europaweit so viele Menschen wie keine andere Unterhaltungssendung versammelt. Oder man sagt, dass der Wettbewerb nichts weiter ist als eine Mischung aus Finanzspritzen, Marketing und Imageberatern, die helfen soll, den Sieg für einzelne Künstler oder Bands zu ermöglichen.

Man kann den ESC als popkulturelles Phänomen der Extraklasse bezeichnen. Oder als musikalisches Eintagsfliegen-Konzept, bei dem Heerscharen junger Frauen in körperbetonter Kleidung ihre Lieder zum Besten geben. Man kann den ESC genießen, zelebrieren, aufsaugen — und sich freuen, dass Dieter Bohlens Sprüche a la "Wenn ich mir morgens einen Pickel ausdrücke, dann hat das mehr Power als deine Stimme" stundenlang keine Rolle spielen. Oder man sagt, der ESC ist bloß eine von vielen Casting-Sendungen, obendrein noch überteuert — und Europa wäre ohne diesen Contest nicht ärmer.

Doch Fakt ist: Der Songcontest, 1956 als Grand Prix Eurovision de la Chanson gegründet, hat (Musik-) Geschichte geschrieben. Man braucht nur vier Buchstaben (zweimal das A, zweimal das B), dann hat man die auch heute noch bekannteste Band, die je mitgewirkt hat: ABBA. Immer wieder sind die großen Stars jener Zeit angetreten: Udo Jürgens, Céline Dion, Rudi Carrell, Johnny Logan. In diese Fußstapfen treten heute junge Talente, die eine große Bühne verdient haben. Zum Beweis: Der Erfolg der schwedischen Sängerin Loreen 2012 in Baku hat dazu geführt, dass ihr Song "Euphoria" einer der international erfolgreichsten ESC-Songs aller Zeiten wurde. Keine Diskothek kommt heute noch ohne die Up-Tempo-Nummer aus.

Dann wären da noch die deutschen Glanzstunden (abgesehen von den sechs Auftritten, bei denen Deutschland am Ende der Punktevergabe Letzter wurde): 1982 etwa, als im britischen Harrogate ein 17-jähriges Mädchen mit langem, lockigen Haar vom Weltfrieden singt. Adrett sieht sie aus, wie eine Pfarrerstochter. In nur drei Minuten bricht ihr Lied den Zeitgeist der wilden 60er und 70er Jahre. Statt zur Revolution fordert sie zu Liebe, Harmonie und Frieden auf. "Ein bisschen Frieden", um genau zu sein. Ein Ruf, der in ganz Europa erhört wird. Nicole gewinnt mit haushohem Vorsprung den Schlager-Grand-Prix, wie er damals noch genannt wird. Über fünf Millionen Mal wird die Platte verkauft, feiert europaweit Charterfolge.

28 Jahre später verzaubert Lena Meyer-Landrut dann ganz Europa. Dafür braucht sie keine Feuersbrünste, keine gläsernen Flügel und keine leuchtenden Geigen. Nur Liebenswürdigkeit — "Lenahaftigkeit " — und ein Lied. Dank "Satellite" triumphiert Musik über groben Unfug. Und für die 19-jährige Deutsche markiert der europäische Gesangswettbewerb 2010 den Beginn einer eigenständigen Karriere — Höhen und Tiefen eingeschlossen. Alles in allem kann der ESC also eine Plattform sein, die den Musikern hilft. Auch, weil die Marke "Eurovision Song Contest" seit einigen Jahren intensiv promotet und nicht mehr wie ein peinliches Stiefkind im europäischen TV-Kalender behandelt wird. Weil es Dutzende Länder gibt, in denen der Contest von den Sendern ernst genommen wird und in denen das Publikum entscheidet — was vor allem für die Identifikation mit dem eigenen Künstler wichtig ist.

Es soll Menschen geben, bei denen das ESC-Fieber 1998 ausgebrochen ist — Guildo Horns fettigen Haarsträhnen und hypnotischem Schmachtblick sei Dank. Sie freuen sich auf das erste Halbfinale am Abend in Wien — und das Finale am Samstag. Auf die deutsche Teilnehmerin Ann Sophie (ein Platz im Mittelfeld wäre schon top!). Auf abwechslungsreiche Musik von internationalen Interpreten. Auf verrückte Kostüme und ausgefallene Choreografien, über die man sich im Freundeskreis beim Rudelgucken amüsieren kann. Auf eine Show mit einem bombastischen Bühnenbild, die einen Abend lang einen ganzen Kontinent fesselt und Menschen vieler Nationen vor dem Fernseher vereint. Mal ehrlich: Es gibt Schlimmeres — oder?!

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