Goertz 100 Platz 9: Edgard Varèse, "Amériques"

Düsseldorf · Das Meisterwerk der Moderne verbindet Klänge aus alter und neuer Welt.

Wolfram Goertz' Top 100 liebste Musikwerke
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Das sind Wolfram Goertz' Top 100

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Foto: Alba / Supraphon / DGG / Erato

Dieser Komponist hat einige Schlüsselwerke komponiert, zu denen die öffentlichen Schlösser stets knarrten oder klemmten. Seine Uraufführungen glichen Geheimveranstaltungen oder endeten in infernalischen Buhkonzerten, was für Varèse, den Zeitgenossen der Zukunft, fast der Normalzustand war. Er war der Gegenwart voraus und stand in Kontakt mit den anarchischen Kräften der Musik. Über sich selbst sagte er: "Ich wurde eine Art teuflischer Parsifal, nicht auf der Suche nach dem heiligen Gral, sondern nach der Bombe, die das musikalische Universum sprengen könnte, um alle Klänge durch die Trümmer hereinzulassen, die man bis heute Geräusche nennt."

Vor 100 Jahren kam der Franzose Edgard Varèse (1883-1965) in Amerika an. Für ihn war das musikalische Europa ein Obstgarten, dessen faule Früchte er längst untergegraben hatte; den Samen aber wollte er retten und in der Neuen Welt säen. Sein frühes Großwerk war "Amériques" von 1921; mit seiner riesenhaften Besetzung, die auch Geräusche als Klangfarben integrierte, wurde es zur ersten Großtat eines komponierenden Vulkaniers.

In der Hitze seiner Klänge verglüht die klassische Form und wird in einem System neugeboren, das man auch mit Blöcken, Aggregaten, Verdichtungsstufen und Collagen vergleichen kann. Viele Werke Varèses tragen technische Namen ("Ionisation", "Density 21,5", "Hyperprism"), doch die Materie, zu der die Klänge eingeschmolzen werden, besteht aus sehr warmen Farben. "Amériques" verändert natürlich die Ausdrucksmöglichkeiten des nachromantischen Orchesters zu derjenigen eines Hexenkessels, auf dem gewaltig viel Druck ist. Die Schlagzeuggruppe im Stück ist fast die größte der Moderne und bietet neben der Sirene auch die Dampfbootpfeife, die Sturmpfeife und den Krähenschrei auf. Das kann man grandios oder bedenklich finden; Varèse ging es nur um die Offenheit der Musik für einen erweiterten Begriff von lebendem Klang.

Solche Realitäten von Musik sind nicht vieler Leute Sache, anderseits: Wer sich mit "Amériques" ernsthaft beschäftigt, wird das Werk unmöglich hassen können. Es bietet ja keinen Lärm, sondern vor allem den Sound der Zeit - und diese Zeit ist ein großer Strom, der in dieser Musik aus Varèses französischer Heimat über den großen Teich und zurück fließt. Man hört in "Amériques" Klänge wie Echos seines Lebens: aus dem Burgund (wo er aufwuchs), von romanischen Kirchen, vom Mittelmeer, vom Hafen in New York, von den Straßen in Manhattan. Daneben, darüber, darunter gibt es Inseln aus paradiesisch schönen Klängen, die so intensiv niemand im 20. Jahrhundert mehr geschrieben hat. In seinem Herzen ist der Klangrevolutionär Varèse immer ein Romantiker geblieben, der Chöre leitete und bei seinem Kompositionslehrer Charles-Marie Widor in Paris auf der Orgelbank saß.

Varèses Musik ist bis heute nicht massentauglich geworden. Das ist jammerschade. "Amériques" ist eine tönende Utopie mit zutiefst menschlichem Antlitz. Die grandiose Decca-Aufnahme des Werks mit dem Concertgebouw Orchestra unter Riccardo Chailly findet man bei Youtube in einer hinreißenden optischen Version: Die komplette Partitur läuft als Film auf dem Bildschirm ab. Wer lesen kann, ist klar im Vorteil, jedoch: Die Seiten blättern sich von selbst um.

Hinweis: Zum Anhören der Playlist benötigen Sie einen Spotify-Konto. Einige Werke sind in der von Wolfram Goertz ausgewählten Einspielung nicht auf Spotify verfügbar. Diese tauchen deshalb nicht in der Playlist auf.

Die Plätze 8 bis 1 werden wir in den kommenden Tagen verraten und in Einzeltexten würdigen. Wie sähen Ihre "Top 100" aus? Lassen Sie uns diskutieren!

(w.g.)
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