Rio Reiser Mit dem Herz durch die Wand

Düsseldorf · Aus dem Nachlass von Rio Reiser wurden 363 Lieder geborgen. Es ist die "Blackbox" einer deutschen Dichter-Biografie.

 Rio Reiser 1975 in West-Berlin. Im selben Jahr zog er aus der geteilten Stadt fort. Mit seiner Band Ton Steine Scherben gründete er eine Kommune in Nordfriesland.

Rio Reiser 1975 in West-Berlin. Im selben Jahr zog er aus der geteilten Stadt fort. Mit seiner Band Ton Steine Scherben gründete er eine Kommune in Nordfriesland.

Foto: Label

Er war 14 oder 15, als er merkte, dass er kein Zuhause hatte. Sein Vater arbeitete als Ingenieur bei Siemens und musste ständig umziehen - Berlin, Nürnberg, Stuttgart, Brühl. Und nun saß der Junge also im hessischen Rodgau, las viel und hörte Beatles, Dylan und die Beach Boys. Er mochte Jungs lieber als Mädchen, er fühlte sich einsam, und um seinen Zustand zu beschreiben, änderte er seinen Namen: Aus Ralph Möbius wurde Rio Reiser, und das ist natürlich ein Anklang an den Roman "Anton Reiser" von Karl Philipp Moritz, das traurigste Buch überhaupt. Lieder komponierte er auch, das tat ihm gut, erst auf Englisch, dann auf Deutsch. Und gleich das erste Stück, das er 1965 in seiner Muttersprache schrieb, ist ziemlich schön: "An einem grauen Dienstag sah ich dein Gesicht / Und plötzlich schien die Sonne und ich verliebte mich / Doch du warst oben, ich war down / Du warst Queen und ich war Clown / Und die Uhr blieb plötzlich stehen / Ich hab dich nie mehr gesehen."

"Halt dich an deiner Liebe fest

Rio Reiser ist 1996 gestorben, und dass er ein großer Songwriter war, wusste man schon damals, man muss nur Titel wie "Junimond", "Wenn die Nacht am tiefsten" oder "Halt dich an deiner Liebe fest" nennen. Nun erscheint "Blackbox", ein mächtiges Paket mit 16 Stunden bislang zumeist unbekanntem Material, das aus dem Nachlass geborgen wurde. Ohne zu übertreiben kann man sagen, dass sich darin einige der wunderbarsten Lieder der deutschen Rockgeschichte finden. Man möchte ständig zitieren: "Die Bäume wiegen sich im Frühlingswind / Und Blumen tanzen Reigen, wo noch Blumen sind / Wo werde ich schlafen, wenn der Sommer geht / Wenn Schnee und Regen fallen und der kalte Wind weht / Irgendwie treibt ein Liebeslied im Meer / Und ich höre eine Stimme mich rufen / Und ich weiß nicht wer."

Die 16 CDs, denen ein 230 Seiten starkes Buch mit allen Texten beigegeben ist, funktionieren tatsächlich als Flugschreiber, als Logbuch einer deutschen Biografie, und sie erzählen von einem, der zum Dichter wurde. Reiser machte eine Lehre im Fotolabor in Offenbach, dann ging er nach West-Berlin. Er komponierte Lieder für Agitprop-Theater wie das Kollektiv Rote Rübe. 1970 gründete er die Band Ton Steine Scherben, mit der er die Klassiker "Macht kaputt, was euch kaputt macht" und "Keine Macht für niemand" schrieb. Weil es in der linksradikalen Szene als Affront galt, Geld für Auftritte zu nehmen, hatte die Gruppe hohe Schulden und floh 1975 aus Berlin, um nicht länger als "Jukebox der Linken" dienen zu müssen. Sie eröffnete die "Scherben-Kommune" im nordfriesischen Fresenhagen. Dieser Ort liegt zwar nicht am Ende der Welt, aber das kann man von dort aus ziemlich gut sehen.

Rio Reiser produzierte pausenlos, manchmal brauchte er nur 20 Minuten für ein Lied. Am besten war er, wenn er entweder selbstmitleidig war oder ganz arglos verliebt in die Zukunft und ins gemeinsame Dagegensein. Das klang dann so: "Wen willst du küssen, mit wem willst du schlafen? / Was willst du wissen, was willst du machen? / Denkst du nicht auch manchmal / Dass dir was fehlt und du weißt nicht was? / Wie kommst du klar mit dieser Welt / Die so kalt ist wie Stahl und Glas? / Lass uns zusammen gehen / Lass uns nach morgen sehen / Wir sind die Zukunft! Wir sind die Antwort!"

"Wir waren zwei Engel in einer Achterbahn"

Unter den nachgereichten 363 Songs findet sich viel Kram, die zeitgeistige Revue-Musik erschließt sich heute nicht mehr ohne Weiteres. Aber vor allem die Solonummern aus den 80er und 90er Jahren sind grandios. Man merkt den Stücken an, wie zerrissen Reiser war. Er fühlte sich keinem Milieu zugehörig, war überall bloß Gast. Er war melancholisch, und er trank. Er wollte immer mit dem Herz durch die Wand, und er glaubte an die Liebe als etwas, das nur zwei bestimmte Menschen sehen können, und manchmal waren diese beiden Menschen du und ich: "Wir waren zwei Engel in einer Achterbahn / Wir wussten, dass wir fliegen können / Und wir haben's oft getan."

Man sollte sich die Freude gönnen und zuerst die Texte lesen und sich dabei fragen, wie er die jeweiligen Lieder wohl arrangiert hat. Da liest man dann ein Gedicht, das man gern zusammenfalten und in die Eichendorff-Gesamtausgabe legen würde: "Oh, der Morgen ist blond, die Sterne verblühen / Die Blätter fallen und die Vögel ziehen / In den Süden, wohin der Sommer geht /Wohin das ganze Jahr bald der Wind verweht / Ich weiß nicht warum, doch mein Herz schlägt so schnell / Und nichts ist, wie's immer schon war / Mach die Türen auf, reiß die Fenster auf / Irgendwas ist wieder da." Das arrangiert er nicht im hohen Ton mit Streicherseligkeit, sondern als Pop-Hit, als klingenden Frühjahrsputz. Als Lied, das einen am roten Faden in den Tag führt.

Vielleicht könnte er noch leben

Nun darf man allerdings Leichtigkeit nicht mit Sorglosigkeit verwechseln. Der Reiser, der einem aus den letzten Texten entgegenschaut, ist jemand, der sucht, bis nur mehr das Suchen übrig ist. Bald werden die Lieder kummergierig und resignativ, und ihr Sänger scheint in seiner Seele das feuchte, wunde Gefühl eines Kranken zu spüren, der sich ungeschützt im Freien aufhält. Er hätte so gern Erfolg gehabt, aber nach dem "König von Deutschland" (1986) kam kaum noch Gewinnbringendes. Der Mann, der so nachhaltig verändert hat, wie man auf Deutsch singt, wurde zu wenig gewürdigt. Sein letzter Text geht so: "Mir fehlen die Worte / Zu lang überlegt / Ich zieh einfach weiter / Ich bin unterwegs / Ich such die Bewegung / Und Ruhe / Und Ruhe."

Am 20. August 1996 starb Reiser an Kreislauf- und Herzversagen. Vielleicht könnte er noch leben. Aber er hatte sich so weit von der Welt entfernt, dass der Rettungswagen zu spät kam.

(hols)
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