Rock am Ring 2015 Auf Klassenfahrt mit den Toten Hosen

Mendig · Unser Reporter verbrachte einen Tag mit den Toten Hosen bei Rock am Ring 2015 in Mendig. Exklusiv durfte er Deutschlands populärste Band vor dem Auftritt bei ihrem Lieblingsfestival begleiten und Backstage-Eindrücke sammeln.

Rock am Ring 2015 - Backstage bei den Toten Hosen
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Rock am Ring 2015 - Backstage bei den Toten Hosen

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Foto: Paul Ripke

Vor der gewaltigen Bühne stehen 90000 Fans und singen die Fußball-Hymne "You'll Never Walk Alone". Hinter der Bühne wirft Campino seine Füße in den Nachthimmel. Eben hat er sich einen "Berserker" in den Mund gesteckt, eine giftig aussehende, schwarz-grüne Kapsel voller Koffein, Guarana und Taurin. Andi, Breiti, Kuddel und Vom Ritchie stehen weiter vorne, nicken einander zu, eilen im Licht-Gewitter zu ihren Positionen auf der Bühne, spielen die wütenden ersten Takte des Klassikers "Bonnie und Clyde".

Campino bleibt hinten und legt dem Physiotherapeuten Flo sein rechtes Bein auf die Schulter. Flo ruft dem Sänger irgendetwas zu, Befehle, Ratschläge, viele Ausrufezeichen. Der Reporter kann nicht alles verstehen, der Lärm ist immens. Campino drückt den Rücken durch, wirft den Kopf nach rechts, dann nach links. Um ihn herum stehen Bühnenarbeiter, Techniker, Sicherheitsleute, Betreuer. Campino atmet ein, wischt sich über die Haare, reißt die Knie an die Brust und rennt hinaus. Das Publikum jubelt, Campino läuft gegen eine Wand aus Lärm, doch er schreit sie einfach nieder, klettert auf die Trümmer und steckt seine Fahne in den Schutt: "Wir sind uns vorher nie begegnet / Doch ich hab dich schon lang vermisst". Der Reporter streicht über die Gänsehaut auf seinem schweißverklebten Unterarm. Im Hintergrund meint er Physiotherapeut Flo seufzen zu hören.

Der Tag beginnt morgens um 8.30 Uhr

Ein Tag backstage mit den Toten Hosen bei Rock am Ring beginnt morgens um halb neun. Auf drei Vans mit schwarzgetönten Scheiben verteilt reist Deutschlands populärste Band nach Mendig, wo das Festival zum ersten Mal stattfindet. Vans? Ein klassischer großer Tourbus lohne sich nur bei langen Tourneen, wird dem leicht irritierten Reporter berichtet, mit den Vans sei man flexibler. Der Reporter sitzt mit Andi und Breiti im Bus. Breiti raschelt mit der Zeitung, Andi bricht das Eis: "Na, willste mal gucken, ob alles stimmt, was Keith Richards so erzählt?". Lachen, Einverständnis, dieser Keith! Wichtigster Mann im Fahrzeug: Humberto, der vom Beifahrersitz aus die Tour mit dem Smartphone organisiert. In seinem Kopf Pläne: abends nach dem Auftritt muss die Band ins Hotel nach Mainz, morgen früh dann weiter nach Nürnberg zu Rock im Park. Und heute um 11.15 Uhr ist Soundcheck. "Kriegen wir hin", sagt Fahrer Alex, der Gedanken lesen kann. Humberto legt Musik auf, Tom Waits, bisschen den Schlaf von der Hirnrinde schmirgeln. Aus dem Fenster schauen, Deutschland gucken, alles easy.

Beim Soundcheck geht es vor allem darum, sich mit der neuen Bühne vertraut zu machen. Die ungewohnte Umgebung zu überblicken. Seinen 30. Geburtstag feiert das vom Nürburgring umgezogene Festival auf einem ehemaligen Flugplatz in der Vulkaneifel. Riesige Fläche, noch leer, erst um 12 Uhr werden die Fans eingelassen. Die Knöpfe in den Ohren der Musiker werden so eingestellt, dass sie einander später gut hören können. Sie haben eigens für diesen Auftritt geprobt: Übergänge einstudiert, neue Songauswahl getroffen, Lichtregie abgestimmt.

Mit 70 Leuten sind die Toten Hosen bei Rock am Ring, 55 davon arbeiten auf der Bühne, parallel dazu Techniker anderer Bands. Es ist ein Gewimmel, dessen Choreografie sich schwer erschließt. Wie auf dem Börsenparkett: scheinbar chaotisch und dennoch einem höheren Plan folgend. Einer fehlt: Campino, den sie hier wahlweise "Campi" oder "der Sänger" nennen. Der Soundcheck läuft bereits 15 Minuten, da tritt er aus dem Nichts auf die mit Teppich ausgelegte Bühne. Er umarmt ein paar Leute, diskutiert ein bisschen und singt ansatzlos und im Gehen "Tage wie diese". Dann ist er wieder weg.

"40 Jahre Rock 'n‘ Roll heißt 30 Jahre warten"

Der Backstage-Bereich liegt fünf Minuten von der Hauptbühne entfernt. Es gibt eine Lounge mit weißen Sofas, wo sich die Künstler treffen können. Jede Band hat zudem eine eigene Kabine zum Umkleiden und Ausruhen. Die Toten Hosen als Headliner haben mehrere: fürs Büro, zum Duschen, für Interviews, die Physiotherapie. Die Räume sind angenehm eingerichtet, weiche Teppiche, dunkle Möbel, gedimmtes Licht. In der Garderobe ein Kühlschrank mit Bier, Cola, Red Bull, Absolut Vodka und Moet & Chandon. Bis zum Auftritt um 22 Uhr sind es noch sieben Stunden. Der Reporter denkt an den Begrüßungssatz von Andi und an Keith Richards. Der hat mal gesagt: "40 Jahre Rock 'n‘ Roll heißt 30 Jahre warten."

Sie haben ein Hotel in der Nähe gebucht, aber schlafen gehen will dann doch niemand. Campino freut sich auf den Auftritt von Bad Religion, Andi möchte zu Rise Against. Jeder diffundiert so herum, man trifft sich im Catering-Zelt, und alle paar Minuten wird jemand begrüßt: "Alter!" Kumpeltreffen, Klassenfahrt, Arm in Arm. Schönste Momente: Wenn alle grinsen, weil aus der Kabine von Marilyn Manson wieder diese komischen Schreie kommen. Der Broilers-Sänger Sammy beim Styling-Finish im Toiletten-Wagen. Security-Mann Toni zeigt Bilder seines Sohnes auf dem Handy. Der Blick der RTL-Reporterin, als im Hintergrund Physiotherapeut Flo mit einem Teesieb aus dem Toilettenwagen kommt, während sie Campino interviewt.

Gursky trinkt Pils

Die Bad Religion-Musiker lassen sich rund um die Uhr massieren. Die Tocotronic-Jungs essen einträchtig mit den Bodycount-Boys zu Abend. Campino schwärmt von den deutschen Bands Deichkind und Zugezogen Maskulin. Der Fotokünstler Andreas Gursky schaut vorbei. Er hat einen seiner Studenten dabei. Der muss ein Foto von Gursky und Andi machen. Nachdem der Student den Auslöser gedrückt hat, setzt sich Gursky die Lesebrille auf und begutachtet das Werk: "Verschwommen. Nochmal." Beim zweiten Mal klappt es. "Was willst du trinken?", fragt Andi. "Pils", antwortet Gursky.

Hinter den Kulissen herrscht familiäre Stimmung. Alle sind seit Jahren dabei, viele seit Jahrzehnten. Es ist so warm, dass einem der laminierte Backstage-Pass ständig am Arm kleben bleibt. Viel nackte Männerhaut, ein Hauch von Tattoo-Convention. Man arbeitet wie hinter einem Nebelvorhang, weil die Musik der beiden nahen Bühnen in den Ohren brummt. Unterwasser-Atmosphäre.

Ab kurz vor neun kommt Zug in den Tag. Die Dialoge werden kürzer, die Schritte schneller, die Scherze seltener. Vom Ritchie sitzt mit leeren Augen auf dem Boden und trommelt auf den Teppich. Campino tigert auf Strümpfen umher, stellt Fragen, auf die keiner antworten soll, singt sich ein, macht Dehnübungen. Andi rennt auf der Stelle. Kuddel ist verschollen. Breiti hat sich ein Muskel-Shirt angezogen und bekommt von seiner Lebensgefährtin einen Kuss. Flo öffnet Salben-Tuben, schneidet Tape-Verbände zurecht, greift in Fleisch. Eine Gitarre wird in den Physio-Raum getragen. Der Reporter spürt selbst als Unbeteiligter Druck im Bauch.

Kurz vor dem Auftritt wird "Passengers" gesungen

Eine Viertelstunde vor dem Auftritt zieht sich die Band wie auf ein geheimes Kommando in einen Container zurück. Sie singen gemeinsam das Lied "Passengers", der Reporter kann sie durch ein Fenster beobachten, und es hört sich in dieser Akustik-Version sehr schön an. Sie bilden einen Kreis wie die Nationalmannschaft vor dem WM-Endpiel. Einer flüstert etwas, die anderen antworten mit Geschrei. Dann legt jeder dem Vordermann eine Hand auf die Schulter, und zusammen gehen sie im Kreis. Rock 'n' Roll, denkt der gerührte Reporter, ist auch Freundschaft. Hier faucht keiner den anderen an, alles geschieht in großem Einvernehmen.

Mit drei Shuttles fährt die Band zu Bühne. Es ist dunkel, über den Himmel zucken die die Lichtblitze der Bühnen-Scheinwerfer. Es brodelt, der Boden vibriert unter den Schritten der Menschenmassen, der Asphalt gibt seine Hitze ab. Wo ist der Sänger? Alle bleiben ruhig, obwohl es nur noch knapp fünf Minuten sind. Sie kennen das offenbar, Campino braucht diese kleine Einsamkeitsinsel. Der RTL-Frau hat er eben gesagt, dass Rock am Ring immer etwas Besonderes für die Hosen sei. Der Reporter denkt an Boris Becker und sein Wohnzimmer Wimbledon. Im Dauerlauf kommt Campino, setzt sich in den letzten Wagen. Er schweigt, aber sein Körper sagt: Ich bin bereit. Abfahrt. Physiotherapeut Flo hält den Türoffner die ganze Zeit fest, huscht hinaus, als der Wagen noch nicht steht, redet auf Campino ein. Ein Sicherheitsmann beleuchtet die Treppe zur Bühne mit einer Taschenlampe. "You'll Never Walk Alone".

Noch während der erste Song läuft, hört man trotz der Geräuschkulisse Steine von 70 Herzen plumpsen. Patrick Orth, der Geschäftsführer, der all die Stunden so konzentriert war und ruhig wie ein Buddha, lächelt jetzt, öffnet ein Bier und boxt dem Reporter gegen den Oberarm. Es läuft. Der Reporter denkt an eine Kuckucksuhr und daran, wie alle Zahnräder ineinandergreifen müssen, damit der Kuckuck singen kann. Manchmal lohnt es sich, 30 Jahre zu warten. Gleich spielen sie "An Tagen wie diesen".

(hol)
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