Berliner Philharmoniker Vergeigt

Berlin · Die Berliner Philharmoniker leisten sich in einer Aufnahme von Schuberts 5. Sinfonie einen kuriosen Patzer. Keiner hat ihn bemerkt.

Berliner Philharmoniker: Vergeigt
Foto: Schnettler

Bei böswilliger Auslegung könnte die folgende Betrachtung den schlechten Ruf der Musikkritik als einer nörgelseligen, kleinkarierten Disziplin untermauern. Andererseits geht es um nichts anderes als um jene winzigen Späne, die im Sägewerk des Musizierens fallen und dummerweise ins Trommelfell des Zuhörers geraten. Es geht des Weiteren um eine kuriose Form des Versagens, das nicht länger als einen Wimpernschlag dauert. Es geht um einen Patzer, einen Spielfehler. Er ist aber nicht verheerend, sondern verwirrend und so leicht wie das Stück, in dem der Span uns irritiert.

Die 5. Sinfonie B-Dur von Franz Schubert gilt als wunderbares Stück Musik. Sie fächelt einem äolisch milde Winde zu, und in den stürmischen Passagen arbeitet sie mit dem wohltuenden Gebläse der orchestralen Air Condition. Die Berliner Philharmoniker haben sie bereits hunderte Male gespielt. Auch der Dirigent Nikolaus Harnoncourt kennt sie wie kein anderer - und wie wunderbar es ist, wenn Kenner aufeinandertreffen, erlebt man in der neuen Schubert-Box der Berliner Philharmoniker, einem bibliophilen Gesamtkunstwerk aus lauter Konzerten im Schuber, den man so ehrfürchtig aufklappt wie einen Flügelaltar aus dem Elsass. Alle Sinfonien, die Messen, "Alfonso und Estrella": Die acht CD bieten das große Schubert-Glück. Jedes Konzert haben die Philharmoniker drei Mal gespielt, und die Techniker haben die jeweils beste Version genommen.

Leider nicht. Beim Beginn der 5. Sinfonie unterläuft dem Orchester, das sich selbst für eines der weltbesten hält und es vermutlich auch ist, ein Malheur. Im dritten Takt spielen die ersten Violinen, eingekleidet von Holzbläsern, eine absteigende B-Dur-Tonleiter, die mit einem witzigen Aufschwung startet. Das zweite F dieser Violinen hört man auf der CD als einen Ton mit Schmutz dran. Da stimmt was nicht. Die meisten Berliner Geiger spielen F, daran ist kein Zweifel, aber eine Geige spielt falsch. Oder sie rutscht übers Griffbrett. Oder ihr Bogen verspringt. Der misslungene Ton fällt deshalb auf, weil die ersten Geigen blank daliegen wie auf dem Präsentierteller. Wenn nur einer stört, produziert er einen Kratzer, der bleibt.

Ich habe diese verkorkste Stelle auf der CD bislang etwa 300 Mal gehört; jeder kann die Fernbedienung seines CD-Players so einstellen, dass sie ihm einen Ausschnitt per Wiederholung bis zur Bewusstlosigkeit vorspielt. Ich bat meine Kollegen zu mir, doch keiner identifizierte den Fleck. "Was willst du?", sagte einer, "das klingt doch toll!" - "Ja sicher", rief ich flehend, "aber das F!" - "Ich hör da nichts", sagte er.

Der Kollege ist kein Musikkritiker, aber er kann immerhin Noten lesen. Könnte es sein, dass ich der einzige Mensch bin, der die Schliere wahrnimmt? Nein, eine Musikkennerin, die mich besuchte und die Stelle etwa 80 Mal hören musste, räumte ein: "Ja, da ist was! Aber was?"

Darum geht's. Da ist etwas, es ist unstrittig - und man hätte es unbemerkt wegputzen können. Das wäre sinnvoll gewesen, denn jemand, der den Fehler kennt, wird auf ihn warten, wenn er die Platte auflegt. Korrigieren ist simpel: Irgendwann wird der erste Teil des ersten Satzes wiederholt, und dabei ist auf der Platte der Patzer weg. Ein F wie aus der Partitur, einheitlich, perfekt. Die Berliner können es also. Dieses zweite F hätte man locker zum Anfang rüberkopieren können, per digitalem Ausschnittdienst; für einen Tonmeister ist das ein Klick. Aber er hat es ja auch nicht gehört. Und die Philharmoniker, die sich hierzu fachkundig äußern könnten, waren gestern nicht erreichbar.

Warum also hört es keiner? Weil die Ohren noch dicht waren? Im dritten Takt war vielleicht noch keiner wach bei der Kontrollsitzung, kein Ohr geeicht, keines justiert. Alle haben gedacht: In den ersten Takten passiert sowieso nichts. Vielleicht haben sie einen Witz gerissen, und im Schatten des Lachens kam das fiese F. Harnoncourt hat es sicher auch nicht gehört, der Mann ist viel zu beschäftigt, als dass er sich mit der Postproduktion seiner Aufnahmen beschäftigt. Im Booklet werden die Herren Engelbrecht und Wolfgang Schiefermair genannt. Sie haben es auch nicht gehört. Es handelt sich um einen exemplarischen Fall von kollektiver Taubheit.

Oder doch nicht? Vielleicht haben alle die Macke registriert, gelächelt und einfach drin gelassen: als Gruß der Vergänglichkeit im Angesicht von Schuberts Ewigkeit. Womöglich war ihnen der Patzer egal, es war ja ein Live-Mitschnitt, und manchmal hat Live einen solchen Drive, dass Spielfehler bedeutungslos und transzendiert werden, das gibt es. Außerdem merkt man, dass Menschen spielen. Aber hier handelt es sich um die Berliner Philharmoniker und um eine der leichtesten Geigenstellen der Welt, die jedem B-Orchester gelingt.

Trotzdem sollte man die Box kaufen. Sie ist famos. Bis auf das F. Das kriegen Sie aber sowieso nicht mit.

Wenn Sie es allerdings hören, wird es Sie nie mehr verlassen.

(w.g.)
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