Ein Neurologe erklärt Lügen ist Stress für das Gehirn

Düsseldorf · "Fake News" und "alternative Fakten" schaffen derzeit eine neue Grundlage für die Diskussion um Wahrheit und Lüge. Der Neurologe Rüdiger Seitz erklärt, was Wahrheit für das Gehirn ist, warum wir lügen können und wie der Mensch es schafft, sich seine Realität zusammenzubauen.

Neurologe erklärt, warum Lügen Stress für das Gehirn ist
Foto: Ferl

Sie haben schon viele Leben gerettet, sind manchmal skandalös, manchmal eine kleine Unannehmlichkeit, und oft hat sie nicht einmal jemand bemerkt: Lügen. Lernen Kleinkinder sprechen, lernen sie kurz darauf unvermeidlich das Lügen. Dass die Lüge eng mit der Wahrheit verwandt ist, zeigt sich auch in der Neurologie. Und wer genau hinschaut, erkennt, dass Menschen von Wahrheit eigentlich gar nichts verstehen.

Rüdiger Seitz ist Ärztlicher Leiter der Neurologie am LVR-Klinikum Düsseldorf und Professor an der Heinrich-Heine-Universität. Er beschäftigt sich intensiv mit Phänomenen des Wissens, einer seiner jüngsten Aufsätze befasst sich auch mit denen des Glaubens. Bei seiner Hirnforschung ist ihm ein Umstand immer wieder begegnet, der Philosophen schon seit Jahrtausenden umtreibt: Dass der Mensch offenbar nicht in der Lage ist, Wahrheit zu erkennen und im Gedächtnis abzuspeichern.

Das Gehirn kann nur interpretieren, aber nicht erkennen

Diesen Mangel verdanken wir der Funktionsweise unseres Gehirns. "Wenn sich ein Mensch fragt: ,Ist das, was ich gerade gehört habe, wahr?', so nimmt diese Person Informationen auf", erklärt Seitz. Gesichtsausdrücke werden mit den Augen, Sätze mit den Ohren und die Temperatur des Gegenübers bei einem Händedruck erkannt. Diese "formalen Informationen" werden erst einmal nur wertfrei in das Gehirn projiziert. Damit Menschen einen Blick als verlegen, einen Satz als unehrlich und einen Handschlag als unmotiviert auffassen, müssen sie diese Eindrücke aber auch verstehen, interpretieren können. Aus diesem Grund hat jedes Sinnesorgan im Gehirn nicht nur einen primären Kortex, der nur eine Leinwand für äußere Eindrücke ist, sondern auch einen sekundären oder assoziativen Kortex. In diesem Bereich, der für Neurologen so interessant ist wie schwarze Löcher für Astronomen, entsteht das, was Menschen für Wahrheit halten.

"Sie kennen das Bild des Dalmatiners?", fragt Seitz und dreht seinen Bildschirm herum. Er zeigt ein Foto, dass kaum mehr als schwarze Fetzen zeigt. Nach einigen langen Sekunden dann das Aha-Erlebnis: Da, unten rechts, ein Hund, der den Kopf vom Betrachter wegdreht. Das Gehirn hat aus einem, wie Seitz es nennt, "Rauschen", ein sinnvolles Bild zusammengesetzt. Was ist nun aber wirklich auf dem Bild? Die Antwort lautet: schwarze Flecken auf weißem Grund.

Der Mensch "erfindet" seine Umgebung permanent neu

"Das Ergebnis der menschlichen Informationsverarbeitung ist immer nur eine Wahrscheinlichkeit", sagt Seitz. Je mehr Zeit ein Mensch dafür zur Verfügung habe, seine Sinneseindrücke zu verarbeiten, desto genauer und wahrscheinlicher werde zwar das Abbild, dass er sich von der Realität macht. Dies sei jedoch immer nur eine vom Gehirn "erfundene" Repräsentation der Wirklichkeit. "Wir nehmen Informationen nicht nur auf, sondern strukturieren sie so, dass sie für uns einen Sinn ergeben", so Seitz. Schon eine geringe Veränderung in der Informationsflut könne bewirken, dass zuvor als wahr angenommene Dinge als Lüge bewertet werden. Bis dahin allerdings gilt für das menschliche Bewusstsein das Prinzip der Unschuldsvermutung: "Wir neigen dazu, alles als wahr aufzufassen. Es bleibt aber immer nur eine momentane Wahrscheinlichkeit."

Trotz aller Unsicherheiten sei das Gehirn zu großartigen Leistungen in der Lage, gerade was die Haltung und die Aussagen seines Gegenübers betrifft. Seitz zufolge gebe es keinen besseren Lügendetektor als den Menschen: "Gesichtsausdrücke können wir in unter 30 Millisekunden verstehen." Schlechte Karten haben Lügner auch, weil Menschen im Gegensatz zu Maschinen das Zusammenspiel von Gesichtsausdruck, Tonlage und Haltung intuitiv begreifen können - und sich bei der Bewertung von wahr oder gelogen auch auf eigene Erfahrungen und bisher Erlebtes beziehen können.

Das können jedoch nicht alle Menschen gleich gut: Psychopathen mangelt es beispielsweise an Hirnfunktionen, die für das Verständnis von anderen Personen wichtig sind. Darunter fallen jene Hirnaktivitäten, die für Empathie und das, was wir Gewissen nennen, verantwortlich sind. Obwohl Psychopathen oft als manipulativ oder sogar gefährlich bezeichnet werden, sind Seitz zufolge jene, die von dieser psychischen Krankheit betroffen sind, keine notorischen Lügner: "Sie lügen nicht, oder brauchen es zumindest nicht. Sie sagen einfach nur, was sie für wahr halten, weil sie keine Konsequenzen befürchten." Ähnlich sei es mit Autisten, die gewisse soziale Fähigkeiten nicht besitzen, die auch das Risikobewusstsein beim Lügen umfassen können.

Lügen sind ein Risiko, mit dem wir zu leben gelernt haben

Denn: Ein gesunder Mensch hat normalerweise Angst vor der eigenen Lüge. Ein Beispiel. Der Chef fragt einen Angestellten, ob er den Quartalsbericht schon fertig hat. Der Angestellte weiß, dass der zwar längst fällig, aber noch nicht fertig ist. Er lügt und antwortet mit "ja" - in der Hoffnung, die Arbeit noch zu schaffen, bevor der Chef es kontrollieren wird. "Der Mensch muss zwischen Belohnung und Kosten abwägen, auch wieder mit Wahrscheinlichkeit", erklärt Seitz. Vor der Antwort des Angestellten stehe das Abschätzen des Risikos, also die Bewertung der potenziellen Gefahr. Der Gefragte überschlage, ob er es wohl schaffen kann, den Bericht fertigzustellen, bevor der Chef ihn schließlich verlangt. "Das ist ein sehr schneller, aber hochkomplexer Vorgang, der etwas mit der Ich-Perspektive und gezielter Handlungsplanung zu tun hat", sagt Seitz.

Dazu sei schon sein vierjähriger Sohn in der Lage gewesen, als er die erste Erfahrung mit einem heißen Toaster machte. "Wir hatten ihm gesagt, er soll ihn nicht anfassen. Natürlich hat er es trotzdem gemacht. Er hat sich verbrannt - und dann hat er gelacht", erzählt Seitz. Anstatt seinen Schmerz zu zeigen, habe er sich einer Täuschung bedient, um sich seinen Eltern gegenüber keine Blöße zu geben. Was eine Lüge ist, bleibt Definitionsfrage: "Das Essen haben Sie aber fabelhaft gekocht", sei angesichts eines ungenießbaren Gerichts eine Lüge aus Höflichkeit, aus der nichts Dramatisches folge. Für die gute Zusammenarbeit von Diplomaten seien Lügen deshalb wahrscheinlich unerlässlich.

Fantastische Lügenwelten können zur subjektiven Wahrheit werden

Wichtig bleibt, Lügen als solche erkennen zu können - auch in der Selbstwahrnehmung. Denn es gibt Menschen, die krankhaft lügen, sich ihre eigene Realität konstruieren, die sich stark von der der anderen unterscheiden kann. Kein Lügendetektor würde sie überführen. Unter dieser "Pseudologia phantastica" leiden jene, bei denen Lügen unkontrollierbar wird, erklärt Seitz: "Das gibt es zum Beispiel bei sehr stark ausgeprägten narzisstischen Persönlichkeiten." In diesen Fällen würden Lügen auch unwillkürlich genutzt, um das Umfeld zu täuschen. Was den Betroffenen fehlt, nennt Seitz die nötige "Introspektion", also die Selbstwahrnehmung.

Dies könne soweit gehen, dass jene Narzissten auch die Intentionen anderer Menschen falsch wahrnähmen. Das bringt Probleme. "Das können unerwartete Reaktionen von Gesprächspartnern sein, die bis hin zu Feindseligkeiten und Problemen mit der Polizei gehen", sagt der Neurologe. Dies gelte aber nicht zwangsläufig für alle pathologischen Lügner. "Die Grenzen sind hier auch nicht scharf beschrieben", sagt Seitz, es komme auf den Schweregrad der Krankheiten an. Einige Betroffene führten ein Leben, in dem weder das Berufsleben noch die Familie von der Krankheit berührt würden. Dennoch sei es oft so, dass die falsche Eigen- und Fremdwahrnehmung für sie in einer "gewissen Unnahbarkeit" resultiere.

Muss man lügen können, um in der Gesellschaft zu funktionieren? Seitz zufolge nicht: "Die Wahrheit kommt irgendwann raus. Und je größer das Kartenhaus ist, dass Sie aufgebaut haben, desto schwieriger ist es, es aufrechtzuerhalten."

(bur)
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