Viersen Nigel Kennedys Andacht mit Bach

Viersen · Der punkige Geiger trat beim Internationalen Jazzfestival Viersen auf.

Das musste Nigel Kennedy gefallen, dass man ihn als Top-Act des Jazzfestivals Viersen porträtiert hatte. Und zwar nicht in altmeisterlicher Manier in Öl auf Leinwand. Nein, junge Street-Art-Künstler hatten sein Konterfei überlebensgroß auf eine Wand gesprayt. Überhaupt schien alles dem Auftritt des unkonventionellen britischen Geigenvirtuosen entgegenzufiebern. Die Spannung heizte sich auf in der ausverkauften Festhalle. Ungeduldiger Applaus. Als Stille eingekehrt war, näherte sich von fern zarter Violinenklang. Im Dunkeln bahnte sich Kennedy seinen Weg durchs Publikum auf die Bühne. Seinem Bach-Präludium widmete er sich mit solch inniger Andacht, dass die Zuhörer den Atem anhielten.

Erst als der letzte Ton verklungen war, blendeten die Scheinwerfer auf und zeigten den Star in seinem gewohnten Bühnen-Outfit: Punker-Frisur, Fußball-Trikot seines Lieblingsvereins Aston Villa unterm Jackett, knallgelbe Sneakers. Kennedy, wie man ihn kennt: strahlend, scherzend, mit dem Publikum schäkernd. Dann wieder große Kunst: das "Air auf der G-Saite" in nahezu überirdischer Schönheit. Vom gezupften Synthie-Pop-Stück "Popcorn" über Bachs Toccata in d-moll bis zu Beethovens Fünfter. Solche Kapriolen schlägt nur er.

Doch plötzlich, so schien es, hatte Kennedy genug von Bach und Co., schnappte sich seine E-Geige, und er und seine Band ließen es mit Jimi Hendrix' "Third Stone From The Sun" und dem Funk-Klassiker "Pick Up The Pieces" krachen. In früheren Programmen hat Nigel Kennedy sich Fats Waller gewidmet, Duke Ellington oder Miles Davis. Seltsam, dass er ausgerechnet bei einem Jazzfestival den Jazz ausspart. Die Verschmelzung der Stile im Jazz zeigte sich auch in den anderen Konzerten des Festivals, vom großen Klangkörper der WDR-Big-Band bis zum musikalischen Minimalismus der Schauspielerin Meret Becker. Mit dem Gastarrangeur und -dirigenten Chris Byars und dem Klezmer-Klarinettisten David Krakauer spürte die Big Band in einem großartigen Konzert den osteuropäischen Wurzeln Krakauers nach, während Becker ihrem Cowboy, einer verflossenen Liebe, Erinnerungen aus dem wilden Westen von Berlin widmete. Country, kein Jazz, aber gesungen mit der poetischen Hingabe einer Frau, die von sich sagt, sie wäre gern eine Blume gewesen: im Haar von Billie Holiday.

(RP)
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