Paris Modiano - der stille Erinnerungskünstler

Paris · Der französische und öffentlichkeitsscheue Literaturnobelpreisträger wird heute 70 Jahre alt. Zum Geburtstag erscheint in Deutschland sein neues - gewohnt schmales - Meisterwerk: "Damit du dich im Viertel nicht verirrst".

Patrick Modiano: Ein Porträt in Bildern
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Das ist Patrick Modiano

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Jetzt bloß nicht nervös werden, wenn nix passiert. Nicht auf der ersten und nicht auf der zweiten Seite. Und wenn überhaupt das, was wir als Action oder Thrill oder Dramatik zu schätzen und schließlich zu wünschen gelernt haben, weitgehend unberücksichtigt bleibt.

Wer mit einer solchen Gelassenheit dann zum neuen Buch des französischen Literaturnobelpreisträgers greift, wird sich auch nicht mehr über folgenden ersten Satz wundern: "Fast nichts." Und auch nicht über das erste Ereignis ein paar Zeilen später: Das Telefon klingelt nämlich am Nachmittag gegen 16 Uhr bei Jean Daragne, der erfährt, dass sein altes Adressbüchlein gefunden wurde - auf dem Boden unter einer Bank im Buffet der Gare de Lyon.

Damit beginnt also die neue Geschichte von Patrick Modiano, die heute zu seinem 70. Geburtstag in deutscher Übersetzung erscheint: "Damit du dich im Viertel nicht verirrst" ist ein guter Anlass, den Literaturnobelpreisträger wieder gebührend zu feiern, ihn und seine Bücher vor allem, die uns gelehrt haben, Melancholie nicht als Trübsinn zu verteufeln, sondern als eine Lebenserfahrung zu begreifen, die uns auch Erkenntnisse beschert. Patrick Modiano hat sich dem zeitlebens ausgesetzt. Darum sind seine Bücher nicht an irgendwelche Leser gerichtet, sondern vornehmlich an ihn selbst. Modiano will mit seinen Romanen etwas verstehen lernen - übers eigene Leben, die Gegenwart und die Vergangenheit.

Das hat er stets als einen Auftrag begriffen, den ihm auch sein Geburtsjahr stellte. Denn einer, der 1945 in Europa geboren wurde und eine Welt betrat, die in Schutt und Asche lag und Millionen von Toten zu beklagen hatte, wollte und musste es als seine Pflicht verstehen, Erinnerungen zu pflegen und sensibel zu werden für Spuren des Vergessenen.

Alle 30 Modiano-Bücher sind manische Erinnerungsbücher. Zum Teil verzweifelte Versuche, etwas Licht auf das, was gewesen ist oder gewesen sein könnte, zu werfen. Wobei er bevorzugt jene Vergangenheit immer und immer wieder befragt, die er vermutlich am besten kennt: seine eigene. Und insbesondere die Jahre seiner beschwerten Kindheit und Jugend - eine Zeit ohne nötige Obhut. Die Mutter war Flämin, 1918 geboren und hegte künstlerische Ambitionen. Ein Revuegirl, das es bis zur Theater- und dann zur Filmschauspielerin brachte, alles mit dürftigem Erfolg. Der Vater, ein Jude italienischer Herkunft, machte mal dies und mal das und eigentlich nichts richtig. In diesem unsteten Leben wurde das Kind zur Last; oft abgeschoben von den Eltern, gerne in irgendwelche Internate.

Modiano hat daraus nie eine Geheimniskrämerei gemacht. Leser haben darüber schon detailliert in "Die Gasse der dunklen Läden" Auskunft erhalten und dokumentarisch in der Autobiografie "Ein Stammbaum" von 2005. Das Kind war aber nicht nur einsam und verlassen; es musste sich zurückgewiesen und verstoßen fühlen: Wie der kleine Junge die Wohnung seines Vaters aufsuchen muss, weil dieser der verarmten Mutter mal wieder die Alimente nicht gezahlt hat. Der aber lässt seinen Sprössling kurzerhand von der Polizei abholen. Und in diesem Augenblick muss der Sohn daran denken, wie der Vater selbst ein paar Jahre zuvor von deutschen Soldaten in einer grünen Minna abgeholt worden war. Persönliche Geschichte wird zu einer Abfolge von Unglücksgeschichten.

Auch mit diesem Rückblick bewegen wir uns schon durchs neue Buch, in dem das wiedergefundene Adressbuch einen Erinnerungsprozess in Gang setzt, der dem Erzähler zunächst "wie ein Insektenstich" erscheint. Jean Daragane, ein alter, zurückgezogen lebender und schweigsamer Schriftsteller, wird heimgesucht von der eigenen Geschichte mit Gedanken an die abwesenden Eltern und einer geheimnisvollen Annie Astrand, die Kabaretttänzerin gewesen ist und nachts reichlich Männerbesuch gehabt haben soll - und die mit ihm nach Italien fliehen wollte.

Erinnerungsfetzen, die nie mehr ein ganzes Bild ergeben werden. "Aber diese ganze Vergangenheit war so durchscheinend geworden mit der Zeit . . . ein Dunst, der sich auflöste in der Sonne", heißt es im Roman. Und was ist mit der Möglichkeit, dass all das, was wir für unsere Erinnerungen halten, letztlich nur etwas Erdachtes und unbewusst Ausgedachtes sein könnte? Das würde einen sicherlich den Boden unter den Füßen wegziehen. Und wer verstanden hat, nicht allzu nervös im Buch zu lesen, wird merken, dass es mit dieser finsteren Ahnung eine größere Action kaum geben kann.

Patrick Modiano stellt uns vor eine plötzlich fremdgewordene Welt. Ohne Hoffnung auf Durchblick und Orientierung. Man lernt auch mit diesem poetischen Meisterwerk, dass schon viel gewonnen ist, wenn man sich wenigstens "im Viertel nicht verirrt".

(RP)
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