Countertenor Philippe Jaroussky In den höchsten Tönen

Paris · Der Franzose Philippe Jaroussky gilt als der bedeutendste Countertenor der Welt. Seine neue CD kümmert sich nicht um Barockmusik, sondern um Musik zu Gedichten des Franzosen Paul Verlaine. Mit diesen Liedern geht er auf Tournee.

 Philippe Jaroussky ist Countertenor.

Philippe Jaroussky ist Countertenor.

Foto: Marc Ribes/Warner

Was ist ein Countertenor? Um Gerüchten und Legenden vorzubeugen: Es handelt sich nicht um entmannte Tenöre. Countertenöre sind weder zwangläufig schwul noch irgendwie weibisch. Konventionelle Frauenpartien singen sie nicht deshalb, weil sie wie Frauen fühlen, sondern weil sie eine Kunst beherrschen, mit männlicher Stimme zu klingen wie gewisse Künstler damals. Ein Countertenor klingt wie ein Kastrat, befindet sich aber im körperlichen Originalzustand.

In einem Internetvideo lassen sich Jarousskys Sing- und Sprechstimme vergleichen:

Philippe Jaroussky, der famose Franzose, ist der berühmteste von allen. Seine Stimme kann bei Barockmusik jubelnd in die Höhe fahren und ein Licht ausgießen, das so intensiv leuchtet wie Neon; er kann sein Timbre aber auch in unendliche Trauer betten. Sein Vibrato ist kostbar und leiert nicht. Um seine Stimme wabert kein Nebel. Das Einzigartige an Jaroussky ist, wie bewusst er ephebenhafte Klarheit und Raffinement vermählt. Der Sänger ist 37 Jahre alt und auf dem Höhepunkt seiner Karriere. In der Branche gilt er als Apoll.

Dass er sich in diesem Parcours am liebsten sportlich bewegt ("Auf barocke Meterware habe ich immer weniger Lust"), zeigt seine Wahl des Pariser Lokals für das Interview. Das "Le Floréal" ist eine mäßig kompetent möblierte Kneipe, eher eine Art Szene-Treff im 10. Arrondissement. In seinem Kapuzenpulli fällt Jaroussky kaum auf. Dass er zunächst grünen Tee mit viel Honig bestellt, weist ihn als Künstler aus, bei dem es auf die Gesundheit der Kehle ankommt - und auf die Botschaft.

Mit fabelhafter Wandlungsfähigkeit dringt er in eine Welt vor, die Sänger seines Fachs bislang kaum je ergründen wollten: Vertonungen von Gedichten des Lyrikers Paul Verlaine. Das ist ein rekordverdächtiger Zeitensprung in den Salon, das Cabaret und die Kaschemmen im Paris des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die zeitgleich unter dem Motto "Melodies françaises" erscheinende Platte heißt einfach "Green" - grün. "Das ist der Titels eines Lieds, das Debussy, Caplet und Fauré vertont haben, eines schöner als das andere, und auf keines wollte ich verzichten."

Jarousskys Kehle hat schon viel bewältigen müssen. Es liegen Welten zwischen Pergolesis erbaulichem "Stabat Mater" und dem jazzig anspringenden Monteverdi-CD-Projekt "Teatro d'amore" von Christina Pluhar, zwischen Händels hoch emotionaler Oper "Agrippina" und der effektvollen Literatur für Kastraten des Barockkomponisten Nicola Porpora. In dessen Arien erreichen die Koloraturen die Geschwindigkeit eines TGV, der die nahe Gare du Nord verlässt. "Aber Koloraturen sind für mich nur noch begrenzt interessant", beichtet Jaroussky, "pure Virtuosität ist kein Musizierideal für die Ewigkeit".

Auch nicht für ihn: Die Stimme jedes Countertenors spricht nur unter leichtem Druck an, damit die Kopfstimme sich weitet, aber nicht ins Fisteln fällt, sondern das Brustregister hinzumischt. Das ist auf Dauer höllisch anstrengend. Um so mehr Vergnügen empfindet Jaroussky darin, mit dem Fuß eine Tür aufzustoßen und einen unbekannten Raum zu erobern. "Es gibt so viel spannende Sachen in der Musik, bei denen man sich ohrfeigen müsste, wenn man sie vernachlässigt." Wie jüngst Agostino Steffanis Oper "Niobe" in der Jaroussky den Anfione, Niobes Gatten, in ein anrührendes Wechselbad der Gefühle steigen lässt.

Die kommenden Wochen widmet er Konzerten mit dem Programm seiner jüngsten Platte. "Green" ist Jarousskys bislang erstaunlichstes Projekt. Paul Verlaine war einer der bizarrsten Dichter der Literaturgeschichte; mehrfach versuchte er seine Mutter zu erwürgen und seinen Kollegen und Freund Arthur Rimbaud zu erschießen; er kam mit dem Betäubungsmittelgesetz in Konflikt und saß im Gefängnis. Als Dichter war Verlaine ein Engel. "Für mich als Sänger, der am liebsten auf Französisch singt", beteuert Jaroussky, "ist seine Sprache Muttermilch".

Von dieser fremdhaften Welt der Poesie fühlten sich alle Giganten jener Zeit aufgerufen: Debussy und Fauré, Reynaldo Hahn und Charles Koechlin, Chabrier und Florent Schmitt, Saint-Saëns, Honegger und Varèse. Dass diese Tour d'horizon für Jaroussky ("Ich bin auch bei YouTube auf Spurensuche nach Verlaine-Liedern gegangen") eine erfüllende Schnitzeljagd gewesen sein muss, zeigt die Auswahl. Sogar Georges Brassens und Charles Trenet - beide angeblich Meister im leichteren Fach haben sich von Verlaine zu größtem Kunstsinn angespornt gefühlt. Neben dem großartig distinguierten Pianisten Jérôme Ducros wirkt auch das Elite-Korps des Quatuor Ebène mit.

Auch "Green" wird bei Jarroussky bald Span ansetzen, denn den Meister drängt es weiter. Neue Pläne warten, "und unbedingt muss ich mich mit Bach beschäftigen". Davor graut ihm ein bisschen: "Deutsch ist eine Sprache, die man sehr gut beherrschen sollte, damit der Sänger nicht als Fremdkörper empfunden wird." Und am Ende der langen Zimmerflucht wartet eine weitere Tür seines Künstlerdaseins: Sie führt ins Dirigentenzimmer. Schon jetzt leitet Jaroussky ein Kammerorchester. Der kluge Mann sorgt vor: "Countertenor bleibt man nicht bis zum Eintritt ins Rentenalter."

(RP)
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