New York Ein junger Russe erobert die Klassikwelt
New York · Der 23-jährige Pianist Daniil Trifonov hat ein fabelhaftes Debüt-Album bei der Deutschen Grammophon vorgelegt. Es ist ein staunenswerter Live-Mitschnitt aus der New Yorker Carnegie Hall. Kritiker loben ihn als "unbegreifliches Talent".
Es hätte natürlich in die Hose gehen können, dann hätten sie da gesessen und an den Nägeln gekaut, aber sie hätten keinen Fehler bei sich oder bei ihm gefunden. Sie hätten einfach gesagt: Die Hürde war vielleicht zu hoch.
Die Hürde war mitnichten hoch, er hat sie vielleicht gar nicht gesehen, nicht bedacht, dass da auch die Mikrofone der Deutschen Grammophon standen, dort im gefährlichsten Saal der Welt, in der New Yorker Carnegie Hall in Manhattan/New York, 7th Avenue Ecke 57. Straße. Er ging wohl einfach hinein, er wusste, dass er ein gemeingefährliches Programm und ein gemeingefährliches Publikum vor sich hatte — und hatte die Tonmeister da oben in der Kabine vermutlich vergessen. Oder er war so abgebrüht zu sagen: Heute bediene ich sie alle, ich gebe mein New-York-Debüt, ich erobere die Carnegie Hall, ich spiele dieses brutale Skrjabin-Liszt-Chopin-Programm, und ich mache auch die Leute vom Gelblabel glücklich.
Jedenfalls kam eine der erstaunlichsten Platten des jungen 21. Jahrhunderts zustande.
Schon vorher war er nicht irgendjemand gewesen. Daniil Olegowitsch Trifonov, 1991 geboren in Nischni Nowgorod, studierte zunächst am Gnessin-Institut Moskau bei Tatjana Zelikman und danach am Cleveland Institute of Music bei Sergei Babayan. Bei mehreren Klavierwettbewerbe war er überaus erfolgreich: 2010 ein 3. Preis beim Chopin-Wettbewerb in Warschau, 2011 der 1. Preis beim Arthur-Rubinstein-Wettbewerb in Tel Aviv und danach der 1. Preis beim Tschaikowski-Wettbewerb in Moskau. Mehr geht fast nicht. Die "Süddeutsche Zeitung" nannte ihn nach seinem Deutschland-Debüt in der Berliner Philharmonie "eines der erfolgreichsten und unbegreiflichsten Klaviertalente der letzten Jahrzehnte". Großer Spruch.
Stimmt aber. Trifonov ist ein Phänomen. Wie er auf der CD den Beginn von Alexander Skrjabins 2. Klaviersonate ganz im Einklang mit dem Untertitel als "Fantasie-Sonate" begreift — wie er also die Elastizität der Form und die Freiheit des Schöpferischen verbindet —, das ist beeindruckend. Skrjabin ist in seiner spekulativen, ins Vage, Schweifende, Spiralförmige spielenden Enthemmungs-Ästhetik nicht unbedingt das Metier eines 23-Jährigen: Trifonov aber spielt das hinreißend, wie ein Artist, der das Zeug zum Mystiker hat.
Liszts h-moll-Sonate ist danach ein Ereignis, wahrhaft ein Ereignis. Trifonov bekommt den Saal still, er zwingt ihn zur Demut, denn er lässt sich Zeit, ohne Nachdenklichkeit zu inszenieren. Er begreift das Werk als konstruktive Poesie, er zerrt nicht an der Materie, sondern verflüssigt die Strukturen. Noch selten hat man das Werk so leicht erzählt gehört, ohne dass es an Tiefgang verlöre. Er spielt Virtuoses unglaublich sicher, Oktavendonner klingt wie eine mittelleichte Scarlatti-Sonate, es ist ein 800-Meter-Lauf durchs Fegefeuer, aber da ist bald auch Licht auf den Höhen im Pianissimo, dieses Element des Versponnenen, Grüblerischen bei Liszt, das selbst Groß- und Altmeister nur unter Mühen hinbekommen.
Am Ende die 24 Préludes von Frédéric Chopin. Der Grad von Trifonovs Reife zeigt sich jetzt darin, dass er 23 Mal sehr schnell und gekonnt an der Stellschraube dreht, 23 Mal einen Beleuchtungswechsel hinzaubert, so dass nicht 24 Stücke erklingen, sondern 24 Gemälde, jedes haargenau in den Rahmen passend, den Chopin vorgesehen hat. Aber Trifonov macht keine Riesenschinken daraus, es bleiben flüchtige Miniaturen mit einem Hauch Ewigkeit.
Es war kein Vabanque-Spiel, Trifonov in New York live mitzuschneiden. Bei der Deutschen Grammophon hatten sie ihn studiert, und sie wussten: Er ist ein Genie und sehr, sehr sicher. Er hat das Profi-Gen, ein Unschlagbarkeits-Abo. Man hört auf der Platte keinen Fehler. Aber das ist nicht der Punkt. Sie ist eine Sensation, weil sie Musik mit Logik und verblüffender Meisterschaft zum Sprechen bringt.