Düsseldorf Psychoanalyse als gezeichnetes Drama

Düsseldorf · US-Autorin Alison Bechdel schildert in ihrer neuen "Graphic Novel" das Leben ihrer Mutter.

In der Literatur sind die Amerikaner oft mutiger als wir. Vor allem neugieriger. Und so kommt es, dass Werke von Alison Bechdel auf den Bestsellerlisten geführt, vom "Time Magazine" zu den besten Büchern des Jahres gewählt und folgerichtig mit Literaturpreisen ausgezeichnet werden. Dabei ist Alison Bechdel "von Hause aus" eine Comiczeichnerin. Aber wenn man ihre Bücher in deutscher Übersetzung als Comic-Drama etikettiert, so ist das ebenso falsch wie hilflos. Alison Bechdel ist die Schöpferin von Graphic Novels - einem Genre, das zwar aus einer Hand entsteht, nur hält diese mal eine Zeichen- und ein anderes Mal die Schreibfeder. Der Leser wird dann auch ein Betrachter und das Buch zu einem Abenteuer.

Derart staunen durften wir schon vor sechs Jahren bei Bechdels graphischem Roman "Fun Home" - eine berührende Erzählung über das Coming-out von Vater und Tochter. Bechdel hat jetzt die Geschichte ihrer Familie fortgesetzt und sich der Mutter zugewandt. Und wie sie das macht, ist schon das erste unerhörte, ungeschützte und auch radikale Drama.

Fast täglich telefonieren Mutter und Tochter miteinander und folgen dabei diesem Muster: Die Mutter redet, Alison hört zu. Bis die Tochter anfängt, die Geschichten der Mutter heimlich aufzuzeichnen und auf diese Weise ein Tagebuch aus zweiter Hand zu führen. Sie wird das der Mutter später sagen, sie wird ihr aber auch erklären, dass sie diese Geschichte der Mutter und ihre eigene Geschichte schreiben muss und veröffentlichen wird. Und wenn wir die lakonischen Zeichnungen mit ihrer dezenten Colorierung betrachten, ist genau von dem Buch die Rede, das wir in unseren Händen halten. Sein Titel: "Wer ist hier die Mutter?".

Die Erzählung ist eine Psychoanalyse auf knapp 300 Seiten, verstörend und hilfreich zugleich. Ein Versuch, das Leben zu begreifen - schreibend und zeichnend, in Rückblicken und Querverweisen und mit der Zeugenschaft einer Virginia Woolf beispielsweise sowie des Psychoanalytikers Donald Winnicott. Erzählt wird eine Mutter-und-Tochter-Geschichte, ausgebreitet wird vor uns dadurch auch das Seelenleben von Alison Bechdel. Man kann sich hinter dieser Autorenschaft zurückziehen. Doch die Größe dieser Geschichte erweist sich darin, dass sie uns nahegeht und Ängste und Gefühle spiegelt, die wir alle kennen und wenigstens ahnen. Das ist die Kunst Bechdels. Und ihr Mut ist es, dies ohne jede Rücksicht zu tun. Die Aufgabe des Schriftstellers sei es, die Form stets im widerspenstigen Leben zu finden und der Geschichte zu dienen, lesen wir. Und: "Nicht der Familie oder der Wahrheit dient er, sondern der Geschichte." Alison Bechdel ist demnach eine fabelhafte, bemerkenswerte Dienerin.

Info A. Bechdel: "Wer ist hier die Mutter?". Kiepenheuer & Witsch, 293 S., 22,99 Euro

(RP)
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