Politologe Graf Kielmansegg Röntgenblick auf Europas Zukunft

Der Politologe Graf Kielmansegg sieht die Europäische Union auf dem Weg zu einem undemokratischen Superstaat.

Nur Demokratien dürfen Mitglied der EU werden; sind sie aber einmal drin, entzieht ihnen Brüssel mehr und mehr an "demokratischer Substanz". Ein Paradox, doch der Grund ist einfach: Die EU will ein Staat werden, und so zieht sie die Macht an wie ein schwarzes Loch die Materie. Peter Graf Kielmansegg, emeritierter Professor für Politikwissenschaft, untersucht in seinem neuen Buch "Wohin des Wegs, Europa? Beiträge zu einer überfälligen Debatte", wie das passiert.

Das Buch ist eine Aufsatzsammlung der verfassungsrechtlichen und demokratietheoretischen Arbeiten des Autors von 2008 bis 2014, wobei drei Beiträge und das Vorwort bisher unveröffentlicht sind. Vergleicht man diese, so wird deutlich, dass die neueren Aufsätze einen qualitativen Unterschied im Vergleich zu den älteren aufweisen. Dieser Unterschied besteht in der deutlich besorgteren Einschätzung der aktuellen Entwicklungen in der EU. Die Wasserscheide bildet das Jahr 2010, das Jahr der ersten Griechenlandrettung. Seitdem sind seine europapolitischen Sorgen deutlich gewachsen.

Fehlentwicklungen benennt Kielmansegg klar: Die Europäische Zentralbank (EZB) betreibe "indirekte Staatsfinanzierung", der Rettungsschirm ESM sei der "Widerruf" des Bail-out-Verbots, also der Haftung für die Schulden anderer Staaten. Auch der Fiskalpakt habe "wenig bewirkt", die Währungsunion sei "faktisch gescheitert". Hinzu kämen ein "bundesstaatlicher Finanzausgleich" und damit eine weitere Dauersubvention für die Südländer.

Um dies abzufedern, drohe eine zunehmende "Entdemokratisierung des Integrationsprozesses", der sich zu einem "Octroi der Eliten" entwickle, weshalb die Kluft zum Bürger wachse. Die Bundesregierung stelle sich dem nicht entgegen: "Deutschland hat im bisherigen Verlauf der Krise Positionen des Widerstands nie auf Dauer durchgehalten."

Neu in der deutschen Diskussion ist sein Ansatz, die europäischen Entwicklungen nach positiven und negativen Posten zu bilanzieren. Kielmansegg spricht sich gegen eine "Sakralisierung" des europäischen Projektes aus, die dazu diene, ein "Konsenskartell der politischen Klasse" zu schützen und sachliche Kritik "in die rechte Ecke hinein zu definieren". Die gegenwärtige Europapolitik sei ein "unverantwortliches Hasardspiel", das den Bestand der EU gefährden könnte.

Besondere Brisanz hat sein Beitrag über das Bundesverfassungsgericht und Europa. Konkret befürchtet er die schleichende und unerklärte Selbstabschaffung Deutschlands "zum bloßen Glied" in einem europäischen Superstaat unter Umgehung des Souveräns.

Kielmansegg kritisiert nicht nur das Verhältnis von Europäisierung und Demokratieerhalt. Im Zentrum seiner Analyse steht die Befürchtung, dass gerade glühende Europäer durch überzogene Maßnahmen das europäische Projekt gefährden. Seine unmissverständlichen Urteile wirken hart, sind aber von Sorge getrieben. Davon zeugen insbesondere die Aufsätze neuerer Zeit.

Für Kielmansegg gilt: Völker bilden sich nach ganz eigenen Gesetzen zu Nationen; am Reißbrett geht das nicht. Dies ist der entscheidende Grund, warum das im Westen so beliebte "Nationbuilding" von außen noch nie funktioniert hat. Man muss kein Prophet sein, dass die Brüsseler Hoffnung, aus der EU einen funktionierenden und demokratischen Staat machen zu können, scheitern dürfte. Graf Kielmansegg hat dies in bemerkenswerter Weise dargestellt.

Dies ist sein persönlicher Paradigmenwechsel, ein Meilenstein in der seit etwa zwei Jahren anschwellenden neuen deutschen Diskussion über Europas Zukunft. Dem Buch ist eine breite Leserschaft zu wünschen. Die berufsmäßigen Europa-Auguren werden daran ohnehin nicht vorbeikommen - zumindest nicht intern.

(RP)
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