Sehnsucht nach dem Draußen

Ein Abend im Garten oder Wandern im Wald - Draußensein tut Körper und Seele gut. Denn in der Natur spürt der Mensch, dass er Teil von etwas lebendigem Größeren ist - und entgeht dem Gefühl moderner Beliebigkeit.

Es geht ja nicht nur um den Sommer, die Sonne, die gute Luft. Wer nach Tagen im Büro oder in der Wohnung oder nach Zeiten des Gehetztseins in die Natur aufbricht, der kann diese seltsame Erleichterung spüren, dieses Aufatmen, das durch den gesamten Körper geht. Endlich draußen!

Der Blick stößt nicht mehr an Grenzen, er kann im Grünen ruhen, in der Farbe verweilen, die milde stimmt und die Sinne entspannt. Damit kann auch der Geist Raum gewinnen, kann das erschöpfende Um-sich-Kreisen durchbrechen, kann spüren, dass er Teil von etwas Größerem ist. Der Philosoph Ernst Bloch hat das in seiner suchenden Sprache auf eine eigentümlich treffende Formel gebracht: "Draußen geht dem An-sich das Um-uns auf", schreibt er in seiner Tübinger Einleitung in die Philosophie. Erst draußen verwirklicht sich der Mensch, ist er nicht mehr nur einsames Wesen, das sich durch sein durchorganisiertes Dasein kämpft. Draußen erkennt der Einzelne, dass er in eine lebendige Umwelt gestellt ist und einen Platz hat in dem, was um ihn lebt.

Dass er jenseits seiner sozialen Rollen Kreatur ist.

Die Natur kann noch so erhaben sein, der Mensch sich darin noch so klein und unbedeutend fühlen, es überkommt ihn trotzdem nicht das kalte Gefühl der Moderne, bestimmungslos, haltlos, ja körperlos zu sein. Das ist ja der Effekt eines Lebens, das sich immer mehr in virtuellen Welten bewegt: dass der Einzelne am Ende auch sich selbst für ein Konstrukt hält, für eine Summe von Funktionen, die auch andere übernehmen könnten. Oder Maschinen.

Dieses Gefühl der Beliebigkeit ist die tiefe Verunsicherung in der hochtechnisierten Gegenwart, die dem Einzelnen vermittelt, austauschbar und damit letztlich überflüssig zu sein. Das führt dazu, dass Menschen viel Zeit, Geld und Mühe darauf verwenden, durch Kleidung, Freizeitgestaltung, Statussymbole das Gegenteil - nämlich ihre Unverwechselbarkeit zu behaupten. Doch das führt nur in den Konsum, statt hinaus ins Draußen, in die Freiheit der Natur, in die Begegnung mit all dem anderen Lebendigen, das dem Menschen zeigt, dass er Geschöpf ist.

Auch im Beruf setzen viele Leute alles daran, sich in der Konkurrenz zu anderen durchzusetzen, sich doch unentbehrlich zu machen. Die Sehnsucht nach Anerkennung treibt sie dazu, sich unter erheblichen Druck zu setzen, mehr als nur genügen zu wollen, die Leistung an erste Stelle zu rücken. Und obwohl das alles geschieht, weil der Einzelne vorkommen will, weil er nicht untergehen möchte im Meer der Leistungsbereiten, setzt ein Gefühl der Entfremdung ein. Fühlen Menschen sich trotz aller Alltagsbequemlichkeit, trotz all des Luxus heutigen Wohnens unbehaust im eigenen Leben, nicht mehr Herr ihrer Zeit und Empfindungen.

Draußen lässt sich dieses Gefühl überwinden. Denn draußen gibt es Räume ohne Zweck, maßlose Üppigkeit. Draußen wuchern die Pflanzen, wie es in ihnen angelegt ist. Draußen kann auch der Mensch einfach sein, wahrnehmen, auf der Haut die Sonne riechen, das Wasser hören beim Eintauchen in den See - und spüren, dass er kein Konstrukt ist, nicht nur die Summe beliebiger Rollen. Sondern lebendig.

Natürlich ist das Draußen keine Idylle. Oft genug weist die Natur den Menschen in seine Schranken, und manchmal sind ihre Kräfte fürchterlich. Wenn Sommergewitter den müßigen Nachmittag am See jäh beenden, wenn Stürme in die Gärten greifen, jahrzehntealte Bäume entwurzeln, das Gesicht von Städten verändern, dann wird das Draußen auch in zahmen Klimazonen feindlich.

Doch selbst dann beweist es eigentlich nur, wie mächtig es ist. Und wie kurzsichtig der Mensch, der sich in urbaner Umgebung verschanzt, als gäbe es keine unbeherrschbare Natur. Doch wer ihren Kräften aus dem Weg geht, wer sich in Sicherheit wiegen will, erkauft das durch den Verlust an Sinnlichkeit. Wer sich dagegen ins Freie begibt, wer Wiese riecht, in die Sonne blinzelt, einmal nicht vor dem Regen davonläuft, der wird sich intuitiv als Teil jener rätselhaften Riesigkeit begreifen, die uns umgibt. Die einfach da ist. Auch wenn wir sie aus den Augen verlieren. Darum tut das Draußensein gut. Darum treibt es uns den Trübsinn aus, das Sinnlosfühlen.

Längst hat die Wissenschaft Belege dafür gesammelt. Studien zeigen, dass durch Sonnenlicht der Spiegel des Glückshormons Serotonin im Blut steigt, dass der Körper angeregt wird, mehr Vitamin D zu bilden. Dadurch steigt das Wohlbefinden, werden Knochen kräftiger, wird Osteoporose und depressiven Stimmungen vorgebeugt.

Auch die Quantenphysik beschäftigt sich mit der Wirkung des Draußen, erforscht die Bedeutung von Photonen, jener Lichtteilchen, die als kleinste Einheit elektromagnetischer Strahlung zwar keine Masse besitzen, aber Energie sind. Darum ist es kein Unsinn, wenn Menschen nach draußen gehen, um Kraft zu schöpfen.

Die Medizinerin Elke Fritsch hat das an sich selbst erlebt. Früher ging sie mit ihrem Mann in die Berge, in den Wald, paddelte über Flüsse, schlief unter freiem Himmel und spürte, wie das ihrem Geist und ihrem Körper guttat. Und darum nimmt sie heute ihre Patienten mit in die Natur, bietet ihnen "therapeutisches Wandern", macht Ausflüge, bei denen der Weg das Ziel ist.

"In der Natur aufzutanken, fühlt sich ganz anders an als etwa Bewegung in einem Fitnessstudio", sagt Elke Fritsch. Das habe auch etwas mit Einfachheit zu tun. Wer sich auf die Natur einlässt, laufe bald mit kleinerem Gepäck los, brauche gar nicht mehr all die Ausrüstung, um sich die Umwelt vom Leib zu halten. "Zurück zu den Wurzeln", sagt Fritsch, "im Dreck wühlen, barfuß gehen, Baumrinde tasten, das kann Menschen helfen, die an chronischen Schmerzen leiden, die übergewichtig sind oder sich nicht konzentrieren können." Kinder mit Aufmerksamkeitsstörungen würden in der Natur ruhiger, schüchterne Kinder kämen aus sich heraus. Manche bräuchten etwas länger, um in der Freiheit anzukommen, andere seien sofort "in ihrem Element".

Gerade bei Kindern erlebt Elke Fritsch manche Widerstände. Etwa, wenn Jugendliche das Mobiltelefon nicht daheim lassen wollen, weil es schon zu sehr zu ihrem Leben gehört. "Manchmal müssen Eltern dann einfach für das Kind entscheiden, dass das Gerät zuhause bleibt", sagt Fritsch, "dann kann es zum Aha-Erlebnis werden, wenn ein Kind das Telefon gar nicht vermisst." Etwa, weil es spannender ist, ein Schnitzmesser benutzen zu dürfen oder auf einen Baum zu klettern oder ein Lagerfeuer anzustecken. Gefährliche Dinge, die im Leben vieler Menschen gar nicht mehr vorkommen, weil das Draußen so ganz aus ihrem Leben verschwunden ist. "Man muss für solche Unternehmungen nur Regeln vereinbaren, dann passiert auch in der Wildnis nichts", sagt Fritsch.

Das Draußen ist zu einem Sehnsuchtsort geworden. Manchem ist er schon so fremd, dass er sich dort nicht mehr zu verhalten weiß. Höchste Zeit zurückzukehren. Nichts wie raus.

(RP)
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