Hagen Sehnsucht nach Schönheit

Hagen · Hagen, die Industriestadt am Rande des Ruhrgebiets, war einst Wegbereiterin der Moderne. Architektur und Kunst zeugen davon noch heute. Einige Hagener haben es zu Weltruhm gebracht, etwa die Sängerin Nena. Und die Wiege der Flugzeugbauer-Familie Boeing stand ebenfalls in der Stadt.

Der Volksmund nennt Hagen das Tor zum Sauerland. Daraus spricht die Perspektive des Ruhrgebiets. Seinen Bewohnern galten die ausgedehnten Wälder südlich des Kohlenpotts schon immer als lockendes Nahziel.

Hagen als Tor - das bedeutet, dass die Stadt mit ihren knapp 190.000 Bürgerinnen und Bürgern einerseits noch selbst zur Industriezone gehört, andererseits aber an ihren Rändern schon ins Sauerland übergeht. Wer in Hagens Fußgängerzone steht und den Kopf hebt, wird unweigerlich durch eine Häuserschneise auf einen grünen Hügel blicken.

Kein anderer Ort lässt sich so gut als Porträt der Stadt lesen wie die Gegend um den Hauptbahnhof. An seiner Rückseite ragen vor der Waldkulisse Industrieruinen auf, Erinnerungen an die Zeit, als die Stahlkrise das Ruhrgebiet noch nicht erfasst hatte und an der Klöckner-Hütte noch die Schornsteine rauchten. Außerdem zählte damals, in den 60er Jahren, Brandt-Zwieback noch zu den geläufigsten Markennamen der Republik. Heute ist die Fernuniversität als größte Uni Deutschlands das Aushängeschild der Stadt. Und, was manche erstaunen mag, die Kultur.

Die versteckt sich allerdings so gut, dass man als Auswärtiger mit der Nase darauf gestoßen werden muss. Zum Beispiel im Hauptbahnhof. Über dem Ausgang zur Innenstadt reckt sich ein dunkles Glasfenster in die Breite, das einer der bedeutendsten Glaskünstler des Jugendstils entworfen hat: der Niederländer Jan Thorn Prikker, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts an der Krefelder Kunstgewerbeschule lehrte und 1910 nach Hagen übersiedelte. Dort machte er sich für die künstlerischen Reformbestrebungen der Werkbund-Bewegung um den Mäzen Karl Ernst Osthaus stark.

Das Fenster im Bahnhof zeigt neun Personen, darunter einen Künstler, einen Schmied, eine Skiläuferin und eine Textilgestalterin. Sie verkörpern, was für Hagen und die Region typisch war und geblieben ist: die Metall- und Textilindustrie, den Tourismus im Sauerland und die Kunst.

Jan Thorn Prikker war einer von mehreren bedeutenden Künstlern, die sich um Karl Ernst Osthaus geschart hatten und zum überregional ausstrahlenden Hagener Impuls beitrugen: der Vision, "die Schönheit wieder zur herrschenden Macht im Leben" werden zu lassen. Diese Bewegung mit ihren Parallelen in anderen deutschen Städten wandte sich gegen die Ideale des Wilhelminismus und brachte als äußeres Zeichen den Jugendstil hervor. Einer der ersten Orte mit Bauten dieser Richtung war Hagen. Die Häuser haben sich bis heute erhalten: in der Arbeitersiedlung Walddorfstraße und vor allem in der Gartenstadt Hohenhagen, deren Prunkstück der Hohenhof ist.

Der Hohenhof am Rande der Stadt bildete die Keimzelle des Hangs zum Gesamtkunstwerk, den sich der kunstsinnige Bankiers- und Industriellenerbe Karl Ernst Osthaus mit dem belgischen Architekten und Designer Henry van de Velde teilte. Osthaus ließ sich von van de Velde ein Wohnhaus erbauen, in dem jedes Detail mit allen anderen Details abgestimmt ist. Der schönste Raum dieser intimen Villa ist Osthaus' Arbeitszimmer. Schreibtisch, eingebaute Sitzbänke und Bücherregale sind allesamt aus grau polierter Esche und bestechen durch ihre unaufdringliche Harmonie. Bei der Zusammenarbeit des Bauherrn mit dem Architekten ging es nicht ganz so harmonisch zu. Gegen den Protest van de Veldes, der für die Raumdecke ein gebrochenes Weiß vorgesehen hatte, ließ Osthaus eine in Orange, Graugrün und Blau gehaltene Schablonenmalerei von Jan Thorn Prikker auftragen. Sie wirkt wie aus unserer Zeit.

Versteht sich, dass auch das Kunstwerke-Inventar der zahlreichen ineinander übergehenden Räume auf die Architektur abgestimmt ist. Das kostbarste - man spricht von einem zweistelligen Millionenbetrag - ist Ferdinand Hodlers wandfüllendes Bild "Der Auserwählte" von 1903. In dieser Arbeit des Schweizer Malers kniet ein nackter Junge vor sechs Engeln. Die Einrichtung des "Verweilraums" nimmt auf das Bild Bezug. Osthaus hatte es bereits erworben, bevor der Grundstein zum Hohenhof gelegt wurde. Ein weiterer Höhepunkt des Rundgangs ist ein Triptychon aus glasierten Fliesen von Henri Matisse mit der Darstellung von Satyr und Nymphen. Der Franzose schuf seine Arbeit speziell für den Wintergarten.

Nicht nur mit dem Hohenhof, auch in der Hagener Innenstadt hat Karl Ernst Osthaus ein architektonisches Zeichen gesetzt: das Osthaus-Museum, ursprünglich "Folkwang-Museum", erbaut vom Berliner Carl Gérard und innen ausgestaltet von Henry van de Velde. Das Haus mit seiner bedeutenden Sammlung vor allem expressionistischer Malerei gilt als das weltweit erste Museum für zeitgenössische Kunst. Als Osthaus 1921 im Alter von 46 Jahren starb, verkauften die Erben den gesamten Bestand an die Stadt Essen, die ihrerseits das Museum Folkwang gründete.

Hagen schuf ein neues Museum, doch die Bestände gingen innerhalb der nationalsozialistischen Aktion "Entartete Kunst" und bei Bombenangriffen verloren, so dass die Sammlung nach dem Krieg neu aufgebaut werden musste. Zurzeit befinden sich viele Werke auf Ausstellungstournee. Oskar Kokoschka, Lyonel Feininger, Otto Dix und Christian Rohlfs sind dennoch präsent. Vor allem der nicht transportable marmorne Jugendstil-Brunnen des Belgiers George Minne, eine Fassung seines "Brunnens mit knienden Knaben", lohnt den Besuch des Museums. Ähnliche Plastiken finden sich im Essener Museum Folkwang und in Gent.

Als Beispiel dafür, dass sich Hagen auch nach dem Jugendstil als Kunststadt zu behaupten wusste, mag Emil Schumacher gelten. Dem 1912 in Hagen geborenen, 1999 auf Ibiza gestorbenen großen Maler des deutschen Informel ist im modernen Anbau des Osthaus-Museum eine eigene Stätte gewidmet, mit Arbeiten vor allem aus seinem Spätwerk und einer Rekonstruktion seines Ateliers.

Noch andere Hagener haben sich auf dem weiten Feld der Kultur einen Namen gemacht: der Krimiserien-Autor Herbert Reinecker zum Beispiel, der Schlagersänger Freddy Breck, die Gruppe Extrabreit und Nena mit ihren 99 Luftballons - Hagener Impulse anderer Art. Und etliche Menschen sitzen täglich im Flugzeug eines Flugzeugbauers, dessen Familie aus Hagen stammt: Der Vater von William Edward Boeing, Wilhelm Böing, kam aus Hagen, wanderte später nach Detroit aus und wurde als Bauholzhändler reich. Sein Sohn trat zunächst in die Fußstapfen seines Vaters - bis er Flugzeuge zu bauen begann.

(B.M.)
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