Neuer Essay "Im Schatten des Sinai" Sloterdijk über die Gewalt der Religion

Düsseldorf · Der Karlsruher Philosoph Peter Sloterdijk widmet sich in seinem neuen Essay "Im Schatten des Sinai" den Ursprüngen und Wandlungen der Religionen.

 Peter Sloterdijk regt mit seinem neuen Essay "Im Schatten des Sinai" zum Nachdenken an.

Peter Sloterdijk regt mit seinem neuen Essay "Im Schatten des Sinai" zum Nachdenken an.

Foto: AP

An religiösem Denken kommt kein Philosoph vorbei. Denn wer unsere Existenz nach ihrem Sinn oder möglicherweise auch Unsinn befragt, landet zwangsläufig bei jenen, die darauf für sich schon eine Antwort gefunden haben. Die kann man teilen, und man kann sich daran stoßen — was spätestens seit der Aufklärung die meisten Denker auch getan haben. Weil solche Grenzziehungen selten eindeutig sind, haben selbst so renommierte Denker wie Jürgen Habermas den Wert einer religiösen Friedensorientierung erkannt und sich in Einzelfällen — etwa in der Debatte um die Präimplantationsdiagnostik — auch an die Seite der Kirche gestellt.

Es geht dabei oft um Trittsicherheit in unsicherem Gelände, und der sich jüngst auf diese Reise begab, ist vielleicht der Eloquenteste und Wendigste unter Deutschlands Denkern: Peter Sloterdijk mit seinem Essay "Im Schatten des Sinai", für den Philosophie kein normales Fach, sondern ein "Modus des Bearbeitens von Themen" ist. Bei ihm wird Denken zur Performance; der Ton macht seine Philosophie.

Angesichts seiner intellektuellen Entertainer-Qualitäten nähert sich der 66-Jährige dem "dämonischen Gebiet" der Theologie zunächst erstaunlich unoriginell. Denn dass monotheistische Religionen insbesondere in ihrer Frühphase auch zur Gewalt neigten, haben vor ihm viele schon gedacht und begründet. Spannender wird es, wenn er die Entstehung der Völker einbezieht. Danach sind religiöse Formen grundlegend für den Zusammenhang einer Gemeinschaft; sie schaffen eine Verbindlichkeit. Dabei kommt dem Monotheismus — dem Glauben an nur einen, allumfassenden Gott — eine besondere Bedeutung zu. In seiner Exklusivität sieht Sloterdijk eine Strategie zur Selbstbewahrung. Das Prinzip lautet nach seinen Worten: "Weil unser Gott wie kein anderer ist, wird auch unser Volk wie kein anderes sein." Diese Unvergleichlichkeit wird auch mit seiner Unsichtbarkeit erkauft. Bewahrt wird sie mit dem Imperativ "Du sollst dir kein Bildnis machen . . .". Ein Bund wird geschlossen von Volksgott und Gottesvolk, und das ist nach Sloterdijk einzigartig. So habe nicht ein Volk seine Religion, sondern eine Religion ihr Volk gefunden.

Blutiger Tag nach dem Exodus

Die Urszene dazu ist ein im biblischen Buch Exodus erzählter Gewaltexzess. Als Moses vom Berg Sinai zurückkehrt und sein Volk lärmend um das neue Idol, das Goldene Kalb, tanzen sieht, zerschmettert er die Gesetzestafeln und fordert vom priesterlichen Stand der Leviten, dass jeder sein Schwert anlege, durch das Lager ziehe und seinen Bruder, seinen Freund und seinen Nächsten erschlage. "Die Leviten taten, was Mose gesagt hatte. Vom Volk fielen an jenem Tag gegen dreitausend Mann", heißt es. Eine Art religiöses Notstandsrecht werde damit exekutiert, so Sloterdijk. Dieser Bundesbruch wird später überführt ins "Konzept" der Sünde, das neben der jüdischen auch Teil der christlichen und islamischen Kultgeschichte wurde. "In jeder Einzelsünde wird die Primärsünde des Verrats an der Bundespflicht aktualisiert." Für Sloterdijk sind all das Belege und Aspekte einer "neuartigen Kultur der totalen Mitgliedschaft", die das gesamte Dasein des Menschen umfasst. Und: Erstmalig wird ein Volk "zu einer programmatischen totalen Institution überhöht", die ihren Angehörigen die Pflicht zur integralen Mitgliedschaft auferlege. Sätze, die in Sloterdijks wie meist inspirierten Gedankengängen folgerichtig sind; außerhalb dieses Kontextes aber sind solche Aussagen Minen auf dem Feld gesellschaftspolitischer Debatten.

Ebenso sein Versuch, darin die Gemeinsamkeit von Christentum, Islam und Judentum auszumachen. Denn die Wurzel sei nicht etwa die mythische Herkunft von einem Stammvater, "sondern die neuartige ethnogenetische Form, die sie als Programmvölker mit prophetischen Skripten von den übrigen ethnischen Gruppierungen abhebt".

Und heute? Alles bröckelt. Der Volksbegriff werde zunehmend problematisch, heißt es. Und die Volkstümer selbst erscheinen als Anachronismen und Sperrgüter auf den Flüssen der Weltgesellschaft. Man kann heute eine Nation verlassen und aus der Kirche austreten. Auch kann vom Gottesvolk keine Rede mehr sein, weshalb Papst Benedikt XVI. auch zur stärkeren Entweltlichung aufgerufen habe, die die Selbstvergewisserung der Religion nur noch "in einer vom Dogma animierten Parallelgesellschaft" möglich macht. Mit der Moderne ist für Sloterdijk ein doppelter Strukturwandel eingetreten: des Religiösen und der totalen Mitgliedschaft.

Peter Sloterdijk sagt: Das "Eifertum" sei somit domestiziert. Und nicht ohne frohen Mut stellt er fest, dass es "zur Ironie der Religionen in der Moderne gehört, dass sie auch das Absolute zu einer Option machen". Man muss Sloterdijk — dem sprachmächtigen Denker — nicht zustimmen. Ihn aber zu ignorieren hieße, die Einladung zu einer spannenden, gar fruchtbringenden Debatte auszuschlagen.

(RP)
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