Hamburg So schwierig war die "Deutschstunde"

Hamburg · Der große Siegfried-Lenz-Roman ist jetzt in einer spannend kommentierten Neuausgabe erschienen. Nun zeigt sich, wie sehr der Autor über viele Jahre mit dem Stoff gerungen hat.

Eine Deutschstunde mit Nachsitzen. Denn um gut ein Viertel ist die Neuausgabe einer der berühmtesten deutschsprachigen Romane der sogenannten Nachkriegszeit jetzt angewachsen: "Die Deutschstunde" also, von Siegfried Lenz geschrieben und im September 1968 erschienen. Ein Riesenerfolg praktisch von Beginn an. Nach nur drei Monaten sind 100.000 Exemplare verkauft; bis heute sind es weit über zwei Millionen in 20 Sprachen. Und jetzt kommt eine dick kommentierte Ausgabe auf den Markt. Wozu? Solche Anhänge will im Grunde ja keiner lesen. Diese 160 gelehrten Seiten aber schon, weil mit ihnen das einst so perfekt wirkende Werk brüchig und auch ein wenig fragwürdig wird - also durch und durch lebendig und aktuell.

Ein neues Buch ist die "Deutschstunde" dennoch nicht geworden. Es bleibt ein Roman der Deutschen - mit Jens Ole Jepsen, dem Polizisten im nördlichsten Deutschland, der in der Nazi-Zeit das Malverbot seines Freundes überwachen muss - des expressionistischen Malers Max Ludwig Nansen. Die Rollen sind klar verteilt: Gesetzeshüter gegen Freigeist, der Staat gegen den Einzelnen in Zeiten, in denen der Staat alles Individuelle bekämpft. Tatsächlich zerrieben zwischen Gehorsam und Freiheit wird aber die junge Generation, wird Siggi, der Sohn des Polizisten, der die Kunst zu retten sucht und der später diese deutsche Geschichte aufschreiben soll. In einer Anstalt für schwer erziehbare Jugendliche scheitert er jedoch am Aufsatz zum Thema "Die Freuden der Pflicht".

Siegfried Lenz (1926-2014) ist es gelungen, im Leidensweg des jungen Mannes einen Geist zu spiegeln, der lange vor den Nazis zu reifen begann und mit den braunen Machthabern fürchterlich tätig wurde: der Geist unbedingter und nicht hinterfragter Pflichterfüllung. Bis zu Immanuel Kant (1724-1804) geht das zurück, der in seiner Metaphysik der Sitten die Pflicht als Tugend deklarierte. Es findet seine Fortsetzung bei Schiller, für den die "Idealmoral" darin bestand, wenn Pflicht aus persönlicher Neigung erfüllt wird. "Die Freuden der Pflicht" ist nicht nur das Aufsatzthema des Zöglings; es wird zur Klassenarbeit der Deutschen. Am Ende wird Siggi ein weißes Blatt abgeben, das vieldeutig ist und unschuldig zu sein scheint.

Genau hier beginnt die neue Kommentierung. An der "Deutschstunde" ist immer schon viel herumdiskutiert worden; jetzt kommt neues Material hinzu. Besonders spannend sind dabei die Probleme, die Lenz selbst mit dem Stoff hatte. Der beginnt 1962 mit dem Buch und hat eine Art masurischen Erziehungsroman im Sinn. Ein Irrweg. Doch um dies zu erkennen, braucht es Zeit. Der erste Entwurf kommt über eine Seite nicht hinaus, der zweite schafft es bis Seite 6 und der dritte bis Seite 33. Doch die Deutschstunde kommt über eine Heimatkunde partout nicht hinaus. Erst 1965 gelingt der Durchbruch. Und wer die passende Lenz-Notiz dazu vom 1. Juni 1965 liest, glaubt zu erkennen, welches Autorenglück ihn - im Gespräch mit seiner Frau Lilo - da überkommt: "In der neuen Deutschstunde glaube ich alles gefunden zu haben; an einem glücklichen Abend: bei steifem Nordost, knackendem Öfchen und gutem Rum sassen wir lange und sprachen über dies Buch, und gemeinsam entwarfen wir die neue Erzählung, die sich auf so selbstverständliche Weise ergeben hat: dies Land, dieser Himmel, ein Künstler und die Macht."

Alles fügt sich plötzlich. Und Lenz traut sich, 1965 etwas von dem Roman auf einer Tagung der Gruppe 47 in Berlin vorzustellen. Damit ist das Buch endgültig öffentlich und die Erwartungshaltung enorm. Dem Glück folgt die Arbeit. Bereits 1966 wird das erste Kapitel "Die Strafarbeit" veröffentlicht. Wer so etwas zwei Jahre vor dem Roman wagt, muss sich und seiner Sache ziemlich sicher sein.

Der Rest der Erfolgsgeschichte ist weitgehend bekannt. Die Bruchstellen werden erst später sichtbar. Eine davon ist Lenz selbst. 2007 taucht sein Name im Berliner Bundesarchiv auf einer Mitgliedskarte der NSDAP auf. Weitere Prominente werden dort ebenso ausfindig gemacht. Dieter Hildebrandt etwa und auch Martin Walser. Ob sie wissentlich Mitglied der Partei wurden, ist bis heute ungeklärt. Manches spricht nach Meinung von Historikern indes für ihre Unschuld.

Schließlich kam dem Roman auch eine der Hauptfiguren abhanden - zumindest die Vorlage aus der realen Welt. Hinter dem im Roman verfolgten Maler Max Ludwig Nansen ist unschwer der Expressionist Emil Nolde zu erkennen. Doch ein Widerstandskämpfer war er beileibe nicht. Seit 1934 war er Mitglied der NSDAP und bemühte sich - wenn auch vergeblich - um Aufnahme in den "Völkischen Kampfbund für deutsche Kultur". In seiner Autobiografie beschreibt sich Nolde als den Meister einer nationalistisch gesinnten modernen "nordischen" Kunst. Regimekritiker finden andere Worte. All das änderte nichts daran, dass die Nazis seine Bilder ablehnten und für entartet erklärten.

Natürlich kann man die "Deutschstunde" auch ohne die Kommentierung lesen und verstehen. Doch die Verwicklungen machen den Roman auch zu einem Dokument seiner Zeit. Das schmälert nicht die Literatur, sondern zeigt, wie welthaltig sie sein kann.

(los)
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