Düsseldorf Die letzte Muse von Pablo Picasso

Düsseldorf · 60 Bilder malte Picasso 1954 von der jungen Sylvette David. Erst jetzt wird dieses charmante Kapitel der Kunstgeschichte gewürdigt.

 60 Bilder malte Pablo Picasso 1954 von der jungen Sylvette David.

60 Bilder malte Pablo Picasso 1954 von der jungen Sylvette David.

Foto: dpa

Das Mädchen saß in einem Garten in der Nähe von Picassos Haus an der Cote d'Azur. Sylvette war gerade aus England gekommen, trank Kaffee, plauderte mit Freunden, rauchte und lachte. "Es war das Jahr 1954, und ich fühlte mich frei wie Luft", wird sie später über diese Zeit sagen. An jenem Nachmittag stupste eine Freundin sie an: Guck mal. Sylvette drehte sich um, sie sah auf eine Zeichnung des eigenen Gesichts, und hinter dem Stück Papier schaute lächelnd der Maler hervor. Es war Pablo Picasso. Ob sie Lust habe, herüberzukommen in sein Atelier, fragte er. Sie zögerte, ging dann aber mit, und in den nächsten Wochen malte Picasso nurmehr ihren Hals, ihre Haare, ihre Züge.

Die Geschichte passierte vor genau 60 Jahren, und in der Biografie des berühmtesten Künstlers der Welt bildet sie das eigenartigste und am wenigsten beachtete Kapitel. Erst jetzt wird es gewürdigt, mit einem opulenten Bild- und Textband, der wie ein Seufzer betitelt ist: "Sylvette, Sylvette, Sylvette. Picasso und das Modell". Die 60 Arbeiten, die der 73 Jahre alte Picasso mit Blick auf die 19-jährige Sylvette David und ihren blonden Pferdeschwanz geschaffen hat, sind darin zu sehen: Gemälde, Zeichnungen, Keramiken, Faltplastiken aus Metall - vom realistischen Abbild zur kubistischen Abstraktion. Und wer nachliest, wie das damals mit dem späten Picasso und der jungen Frau gewesen ist, fragt sich, wie lange es noch dauert, bis man diese wunderbare Episode der Kunst-, Zeit- und Sozialgeschichte im Kino erlebt.

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Picasso war in der Krise, als "Saison in der Hölle" bezeichnen Biografen die Jahre 1953 und '54. Sein Familienglück zerbrach, die Geliebte Françoise Gilot verließ mit den gemeinsamen Kindern Claude und Paloma das Anwesen "La Galloise" in Vallauris und zog nach Paris. Picasso lebte also allein, als er Sylvette das erste Mal sah: Sie half in der Töpferei, in der ihr Verlobter Toby arbeitete. Die Fotoporträts der jungen Sylvette lassen erahnen, was Picasso fasziniert haben mag. Sylvette trug ihren Pferdeschwanz mit viel Koketterie, sie war selbstsicher, ohne offensiv zu wirken. Lange Röcke kombinierte sie mit engen Trikots, und sie betonte ihren Hals. Sie war auf arglose Weise natürlich, leicht und durchscheinend wie ein Luftgeist.

Der Vater von Sylvette David handelte in Paris mit Kunst, er hatte seine Tochter in A. S. Neills reformpädagogischem "Summerhill"-Internat erziehen lassen, und natürlich war er nicht nur froh, dass sie nun dem Maler Modell saß. Mit fast jeder Frau, die Picasso porträtierte, ging der Künstler eine Beziehung ein: Marie-Thérèse Walter, Dora Maar, Françoise Gilot - sein Ruf als Charmeur war legendär. Aber Sylvette bildete doch wohl die Ausnahme. In Interviews sagte sie später, ihr eifersüchtiger Verlobter habe sie immer begleitet. Nur einmal soll Picasso sie alleine in einen Raum geführt haben, dort sei er auf dem Bett herumgehopst und habe sie eingeladen mitzumachen. Aber sie hatte keine Lust; überhaupt habe sie nicht begriffen, was in jenem Sommer passierte. Als die Porträts wenige Wochen später in Paris präsentiert wurden, brachten "Life", "Spiegel" und "Paris Match" Titelgeschichten über die Muse des Künstlers. Es war eine Sensation: Nie hatte Picasso eine derart umfangreiche Serie zu einem Thema erarbeitet.

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Lange galten die Sylvette-Arbeiten unter Experten als allzu zeitgeistig. "Süßlich", lautete das Urteil, "modisch" und "sentimental". Doch die Bilder wurden populär, Picasso erschloss sich ein junges Publikum. Reproduktionen hingen bald in Cafés und Studentenzimmern. Man sprach vom "Pferdeschwanz à la Picasso". Roger Vadim, Ehemann der damals noch brünetten Brigitte Bardot, soll Sylvettes Bilder gesehen und seine Frau gebeten haben, ihr Haar so zu frisieren wie das Mädchen aus Vallauris: Bardot wurde zu BB. Sie reiste nach der Typ-Veränderung zu Picasso und wollte sich ebenfalls von ihm malen lassen, doch er lehnte ab. Wenn man so will, erfand Sylvette einen neuen Frauentypus, sie steht für den Übergang von Backfisch zu Teenager.

Der neue Band weist nach, wie wichtig die Arbeit mit Sylvette auch kunstgeschichtlich war. Es ging Picasso darum, eine Frau in natürlicher Umgebung zu zeichnen. Er wollte mit dem Genre Porträt experimentieren: nur so viel zeichnen, dass noch ein Geheimnis bliebe. Schönheit malen, aber nicht abbilden. Auf einigen Bildern sind Sylvettes Züge nur als Schatten zu erahnen. Picasso führte zwei oder drei Profilansichten zusammen, verschmolz Profil und Enface. Er begann Sylvettes Gesicht chiffrenartig zu reduzieren, und das letzte Bild zeigt nurmehr Augen und Frisur. Dennoch erkennt man Sylvette. In seinem Spätwerk formulierte er diese Ansätze aus, an Sylvette trainierte er gewissermaßen seine Virtuosität. Zur Vollendung brachte er sie in dem Porträt der "Madame Z", das ebenfalls 1954 entstand. Die Frau war Jacqueline Roque, die sieben Jahre später die letzte Ehefrau Picassos wurde.

Bevor Sylvette mit ihrem Verlobten Toby nach Paris ging, breitete Picasso alle Arbeiten vor ihr aus und forderte sie auf, zwei auszusuchen. Sie wählte eine Zeichnung und ein Gemälde. Das Gemälde verkaufte sie kurz darauf, um sich ein Zimmer in Paris leisten zu können. Sie bekam 10 000 Pfund und vom Käufer die Zusicherung, dass es nach seinem Tod an sie zurückgegeben werde, da er selbst keine Familie habe. Doch er erkrankte an Demenz und erinnerte sich nicht an die Vereinbarung. Kürzlich wurde die Arbeit für fast neun Millionen Dollar versteigert. Der Käufer lud Sylvette, die nun selbst als Künstlerin arbeitet, zu sich in die USA ein, damit sie das Bild sehen könne. Als die 79 Jahre alte Dame dem Porträt gegenüber stand, musste sie weinen. Nicht wegen des wirtschaftlichen Verlustes, beteuert sie. Sondern weil sie etwas Größeres sah, das unwiederbringlich verloren ist: die Jugend.

(RP)
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