Geschichten aus Taizé (4) Wo Jugendliche beten und feiern

100.000 junge Christen reisen jedes Jahr nach Taizé, um zu beten, zu arbeiten – und zu feiern. Die Jugendlichen organisieren den Alltag im Pilgerort selbst und schaffen eine Atmosphäre, in der sie auch mal Schwäche zeigen dürfen. Für viele eine neue Erfahrung.

Taizé – so leben die Jugendlichen
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100.000 junge Christen reisen jedes Jahr nach Taizé, um zu beten, zu arbeiten — und zu feiern. Die Jugendlichen organisieren den Alltag im Pilgerort selbst und schaffen eine Atmosphäre, in der sie auch mal Schwäche zeigen dürfen. Für viele eine neue Erfahrung.

Noch flackern die Kerzen hinter dem Altar in einer Mauer, die aussieht wie eine große, glimmende Bienenwabe. Feierlich wirkt das und heimelig. Das Abendgebet ist zu Ende, doch Hunderte Jugendliche hocken weiter auf dem groben Teppichboden in der Kirche, stimmen ein ums andere Lied an, lassen sich von den weiten Bögen der Musik in die Nacht tragen.

Da treten zwei junge Männer zum orthodoxen Kreuz neben dem Altar, heben die schwere Ikone aus ihrer Verankerung, schleppen sie den Mittelgang hinauf, legen sie auf den Boden. Nun ruht sie inmitten der Brüder der ökumenischen Gemeinschaft von Taizé, die während der Gebetszeiten in ihren Kutten im Mittelgang hocken. Sie umringen jetzt das Kreuz, knien davor nieder, beten still. Dann ziehen sie sich zurück aus der Kirche, überlassen das Kreuz der Jugend.

Fromm sein ohne jede Verlegenheit

Junge Christen in Taizé erzählen
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Junge Christen in Taizé erzählen

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Sofort strömen junge Gläubige in den Mittelgang, kauern sich hin, bis sie an der Reihe sind. Dann treten sie, manche plötzlich befangen, vor das ruhende Kreuz, knien nieder, beugen sich so weit nach vorn, bis sie das bemalte Holz mit der Stirn berühren. Minutenlang verharren sie so, Seite an Seite — Jugendliche, die bei Jesus am Kreuz eine Last abladen. Teenager, versunken ins Gebet.

In Taizé, dem großen ökumenischen Pilgerort für die Jugend in der französischen Provinz, sind junge Christen fromm, ohne jene Verlegenheit, die sich einstellt, wenn ein Ritual bloß Pflicht ist. In Taizé müssen Jugendliche nicht tun, was Erwachsene verlangen, sie geben einander Beispiel. Und dann wagen sich ein paar zum Gebet vor das Kreuz, andere folgen, und wieder andere bleiben lieber an ihrem Platz, singen bis tief in die Nacht die Lieder von Taizé, die diesem Ort den Atem geben.

Sehnsucht nach Gemeinschaft

Die Sehnsucht nach Gemeinschaft und nach christlichem Leben ohne Kompromisse hat aus dem Dorf in den rauen Hügeln von Burgund einen Pilgerort gemacht. Seit dem Zweiten Weltkrieg leben dort Brüder in einer ökumenischen Gemeinschaft, versuchen in radikaler Einfachheit, Leben und Glauben zu teilen wie die ersten Christen in den Urgemeinden.

Das begeistert vor allem Jugendliche. Erst kamen sie aus Europa, inzwischen pilgern sie aus der ganzen Welt nach Taizé, um teilzuhaben am Gemeinschaftsleben der Brüder. Und um anderen jungen Leuten zu begegnen, die Jesus nachfolgen wollen — und danach suchen, was das heute heißt.

Einige spielen Tim Bendzko

So ist Taizé der größte christliche Jugendtreff Europas geworden. Es ist 22 Uhr. Hinter dem Oyak, dem einzigen Kiosk am Rande des Geländes, sitzen etwa 60 Jugendliche auf Turnbänken unter einem Zeltdach. Grimmiger Wind streicht durch die Nacht. Der Boden ist schlammig von den Schauern des Tages. Eine Neonröhre spendet blaukaltes Licht. Die Jugendlichen rücken zusammen. Drei haben Gitarren dabei und spielen jetzt Tim Bendzkos "Nur noch kurz die Welt retten". Eine Chipstüte kreist. Dann die Toten Hosen: "An Tagen wie diesen". Aus Singen wird Grölen, die Jugendlichen auf den Bänken verschränken die Arme, die Gruppe wird eins. Man sieht in vielen Gesichtern, wie gut das tut.

"Ich gehe regelmäßig in die Kirche, aber ich fühle mich dort oft allein mit meinem Glauben", wird Viktoria (22) aus Mainz später erzählen. "Es ist toll, in Taizé mit so vielen jungen Leuten in der Kirche zu sitzen, die ganz ehrlich hingebungsvoll beten." Darum ist Viktoria nun schon zum vierten Mal in Taizé. Es habe sich so ein "Zuhausegefühl" eingestellt, sagt sie, darum fahre sie jedes Jahr für eine Woche in das Camp, auch jetzt noch, da sie schon studiert. In Taizé sind junge Christen keine Exoten. Sie müssen auch nicht über Kreuzzüge, Zölibat, den Urknall streiten, sondern sprechen über Fragen, die sie wirklich beschäftigen. Was sie nach der Schule mit ihrem Leben anfangen wollen zum Beispiel. Oder, warum Gott das Böse zulässt. Man spürt an einem Ort, ob das Miteinander so stark ist, dass solche Gespräche möglich sind.

Schmiertechniken sind Dauerthema

Deswegen lieben auch Felicitas (18), Max (23) und Christian (27) dieses Dorf in Frankreich. Die Geschwister kommen aus Twistringen, einer Kleinstadt nahe Bremen, und waren alle schon mehrfach in Taizé. "Wenn man sagt, dass man gläubig ist, bekommt man so viel Gegenwind von seinen Freunden", sagt Felicitas, "in Taizé kann man sich mal wieder damit befassen, was eigentlich für den Glauben spricht, man ist nicht permanent in Verteidigung." Felicitas hat gerade die Schule hinter sich gebracht, dann noch den Jagdschein gemacht. "War mehr Lernerei als das Abi", sagt sie und lacht. Sie spricht schnell, lebhaft, wie eine, die zu viel Energie im Körper hat. Ihre Brüder studieren Psychologie und Medizin, daheim gehen sie jetzt alle eigene Wege. Nach Taizé wollten sie gemeinsam.

Christian hat sich schon mal stellvertretend für die Geschwister in die Schlange vor der Essensausgabe gestellt. Das Morgengebet ist gerade zu Ende, doch auf dem Platz vor der Kirche warten schon etwa 300 Jugendliche in krummen Reihen, kuscheln sich in ihre Anoraks. Wolken hängen tief am Himmel, die Luft ist schwer und feucht. Wie jeden Morgen gibt es ein Stück Baguette, Butter und zwei Riegel Schokolade. Kein Besteck. Alternative Schmiertechniken sind Dauerthema in der Warteschlange. Als vorn 40-Liter-Eimer mit dampfendem Kakao abgestellt werden, klatschen die Jugendlichen. "Dieser Geruch macht mich glücklich", sagt einer.

Verletzlichkeit erlaubt

Die Besucher in Taizé sind nicht typisch für ihre Altersgruppe. Die meisten wachsen in christlichen Elternhäusern auf, gehen auf höhere Schulen, spielen ein Instrument. Aber auch sie haben geschiedene Eltern, leiden unter Leistungsdruck, Mobbing, machen sich Sorgen um die Umwelt oder haben beim Tod der Oma zum ersten Mal erlebt, dass das Leben endlich ist. In Taizé können sie über solche Erfahrungen sprechen. Es herrscht ein Klima, das Verletzlichkeit erlaubt.

Mittagsgebet in der Versöhnungskirche. Eine Gruppe aus Frankreich ist gerade angekommen. Die Jugendlichen lassen sich im Pulk gleich am Eingang auf den Stufen nieder, beobachten. Ein paar Mädchen rücken ganz eng zusammen, beginnen irgendwann, sich gegenseitig Zöpfe zu flechten. Am nächsten Tag sitzen sie draußen mit Jugendlichen aus Belgien und der Schweiz zum Bibelgespräch auf den einfachen Balken, aus denen in Taizé Sitzgruppen gezimmert sind. Sie diskutieren auf Französisch. Später springen sie auf die Bänke, reichen einander die Hände, steigen über die Barrieren der Arme, bilden auf dem Schwebebalken einen menschlichen Knoten. Großes Gekreische.

"Taizé ist Facebook live"

Beim Mittagessen steht die Bibelgruppe gemeinsam in der Schlange. Beim Abendgebet hat sich der Pulk der französischen Jugendlichen auf der Treppe am Eingang der Kirche aufgelöst. Es gibt in Taizé Teenager, die durch Gruppenfahrten dorthin gespült werden, die mit den christlichen Ritualen fremdeln und darauf mit Abwehr reagieren. Sie sind die Minderheit. Man sieht dort auch nur selten Markenklamotten. Dafür Mädchen in Batikhosen wie zur Hippiezeit, Jungs in Sweatshirts ohne Kapuze. Eine Jugendliche trägt einen grasgrünen Frottefrosch als Mütze.

Die Jugendlichen wirken weniger uniform als daheim auf den Schulhöfen, weniger abgebrüht. Sie reden auch weniger über Kleider, Handys, Castingshows. In der Schlange an der Essensausgabe witzeln sie über die einfache Kost, über den Hunger, der übrigbleibt, übers Kloschrubben, über andere aus der Bibelgruppe. Sie sprechen über ihr Hier und Jetzt, die erlebte Gegenwart. "Taizé ist Facebook Live", sagt einer.

Manchen fällt die Heimfahrt schwer

23.30 Uhr. Auf dem Platz hinter dem Oyak schrammeln die Gitarren. Jungs aus Belgien mit schlacksigen Körpern, schwarzen Kappen versuchen auf dem matschigen Boden ein paar Hip-Hop-Schritte. Als sie zur ersten Hebefigur ansetzen, geht das Licht aus. Nachtruhe. Die Gitarren stimmen Beatles an, doch die Jugendlichen vom Night-Welcome-Team sind schon zur Stelle. "Sorry, aber hier wohnen auch Leute", sagt einer von ihnen, Yves (18) aus Castrop-Rauxel. Er wirkt noch etwas verlegen als Nachtwächter.

Die Jugendlichen handeln jetzt ein letztes Lied aus. Dann springen die mit der Gitarre tatsächlich auf. Die anderen folgen. Die Gruppe zerstreut sich Richtung Unterkünfte. "Da müssen wir gleich noch mal für Ruhe sorgen", sagt Yves. Aber eigentlich klappe das prima mit der Selbstkontrolle. "Und die Nachtwächter bekommen abends ein Extraessen", sagt er, "das motiviert."

Man könnte es ein Wunder nennen, dass in Taizé Tausende Jugendliche friedlich campieren, obwohl Essen und Unterkünfte primitiv sind, es keine Aufenthaltsräume gibt, kein Internet, kein Abendprogramm, nur Gebetszeiten, Bibelstunden, gemeinsames Arbeiten. Man begreift dieses Wunder, wenn man am Ende einer Taizé-Woche zum Busparkplatz geht. Da stehen dann Jugendliche aus allen möglichen Ländern im Kreis, singen noch einmal "Nada te turbe", nehmen sich in die Arme, tauschen Facebook-Namen. Und dann steigen sie in ihre Busse, drücken das Kopfkissen an die Fensterscheibe, bereit für die Fahrt zurück in eine rauere Welt. Dass die Heimkehr manchmal schwerfällt, hatten Jugendliche aus Cottbus am Nachmittag erzählt. Und dann hatte einer diesen Satz gesagt: "Taizé kann einem niemand mehr nehmen."

(RP)
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