Thomas Pynchon Meister der Verschwörung legt 9/11-Roman vor

Düsseldorf · Das neue Buch des großen Unbekannten der amerikanischen Literatur steckt wieder einmal voller Verschwörungstheorien. Und zugleich ist "Bleeding Edge" von Thomas Pynchon ein echter New Yorker Heimatroman geworden.

Was die Welt seit 2000 veränderte
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Thomas Pynchon, der bekannteste Unbekannte der amerikanischen Literatur, lebt seit Jahrzehnten unbehelligt in New York. Man weiß, dass er mit einer Literaturagentin verheiratet ist, man kennt die Adresse und den Preis (1,7 Millionen Dollar) seiner Sechs-Zimmerwohnung in der Upper West Side. Dass er dennoch nicht auf den schützenden Deckmantel der Anonymität - keine Fotos, keine Interviews, höchstens mal ein Juxauftritt bei den "Simpsons" oder ein Werbetrailer für seinen neuen Roman "Bleeding Edge" - verzichtet, ist ein Versteckspiel. Oder ein politisches Statement.

Paranoide Fantasien

Der König paranoider Fantasien ("Paranoia ist der Knoblauch in der Küche des Lebens; man kann nie genug davon haben") weiß natürlich, dass Staat, Geheimdienst und Industrie heute über ziemlich ausgereifte Techniken zur Überwachung und Kontrolle der Privatsphäre verfügen. Aber Pynchon will der realen Bedrohung durch ironische Überbietung und groteske Überhöhung Schnippchen und Haken schlagend immer einen Schritt voraus sein. "Bleeding Edge" steckt wieder einmal voller Verschwörungstheorien: Dass der 11. September ein Gemeinschaftswerk von Bush-Regierung und Wallstreet gewesen sein könnte und CIA und NSA mit der Spähsoftware Promis im globalen Maßstab aushorchen, ist im Lichte von Edward Snowdons Enthüllungen über Prism nicht mehr unvorstellbar.

In seinem Roman versteckt sich Pynchon hinter der Hauptfigur. Wie er selber wohnt Maxine Tarnow in der für Kapitalismuskritiker eigentlich unmöglichen "Yupper West Side" und schickt ihre Söhne auf eine Privatschule; allerdings ist die Otto-Kugelblitz-Schule nur eine "Klapsmühle mit Hausaufgaben". Wie er ist Maxine ein Familienmensch, der die Freuden ehelicher Liebe nicht verachtet, und wie er zieht sie die schäbige Urbanität New Yorks dem gleißenden Glamour Kaliforniens vor. Allerdings ist Maxine keine Autorin, sondern freiberufliche Betrugsermittlerin, eine jüdische Mame mit flottem Mundwerk und geladener Beretta im Handtäschchen.

Neue Bilder vom Einsturz des World Trade Center
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Jüdische Mame mit flottem Mundwerk

Zertifizierte Betrugsermittler können sich im Jahr 2001 über einen Mangel an Aufträgen nicht beklagen. Facebook, Google und das IPhone sind noch nicht erfunden; dafür gibt es DeepArcher, eine Art verbessertes Second Life, Computerspiele mit realistischen Splatteroptionen und Strahlenwaffen wie den russischen Vircator: In der Erfindung obskurer Cyberpunk-Gimmicks im Bleeding-Edge-Stadium war Pynchon schon immer unschlagbar. Die Dotcom-Blase ist gerade geplatzt, die Millenniumseuphorie verflogen. Noch stehen die Türme des World Trade Centers; erst auf Seite 401 werden sie mit einem leisen "o-oh" einstürzen.

605 Seiten- erfreulich kurz

In Thomas Pynchons karnevaleskem 9/11-Roman tummeln sich russische Hacker und italienische Mafiosi, Zen-Gurus und Mossad-Agenten, Internet-Trolle, Börsenschwindler und Blender zwischen zwangsgeräumten Lofts und Abbruchhäusern. Gabriel Ice, der "Digitalmogul" von hashslingrz, träumt von Serverfarmen in der Arktis, Bürgermeister Giuliani von der Säuberung New Yorks, Nicholas Windust mordet im Auftrag der CIA. Zu Maxines Freunden und Helfern gehören neben ihrem Ex-Mann Horst: Der Dokumentarfilmer und Raubkopierer Reg Despard, Eric Oldfield, "Sherpa des Deep Web" und paranoider Fußfetischist, Conklin Speedwell, ein nasaler Forensiker und Sammler von Hitler-Parfums, sowie March, die große alte Frau der linken Verschwörungstheorien.

 Das Cover des neuen Romans von Thomas Pynchon.

Das Cover des neuen Romans von Thomas Pynchon.

Foto: dpa, cdt

So weit ist "Bleeding Edge" ein ganz normaler Pynchon-Roman, mit 605 Seiten erfreulich kurz und in seiner Gag- und Pointengier dennoch auch ermüdend. Pynchon - auch schon 77 Jahre alt - spielt im Kammerspielformat noch einmal alle Motive durch, für die er seit jetzt bald fünfzig Jahren berühmt und berüchtigt ist: Paranoia, Konsum- und Medienkritik, Entropie und Chaos.

Wie immer ist der Plot eingebettet in ein dichtes Gewebe popkultureller Referenzen: imaginäre und reale Filme, Fernsehserien, Bands wie "Nazi Vegetables", Graffiti, obskure Modetrends und Zeitgeistphänomene wie Designer-Thementoiletten und Ikea. Wie immer versuchen dunkle Mächte in Staat und Geheimdienst die Utopien der Sechziger Jahre zu usurpieren und gegen ihre Träumer zu wenden; nur dass ihre Opfer diesmal nicht die alten Hippies sind, sondern die Geeks und Nerds der digitalen Avantgarde.

Imaginäre und reale Filme

Vor allem aber, und das ist wirklich neu, ist "Bleeding Edge" ein New Yorker Heimatroman. So wie man aus Balzacs Romanen das alte Paris und aus Joyces "Ulysses" das Dublin des 16. Juni 1904 rekonstruieren kann, könnte man aus Pynchons Roman das Manhattan vor dem 11. September wiedererbauen, vom jüdischen Deli um die Ecke bis zum Times Square. Pynchon wird auf seine alten Tage fast nostalgisch und sentimental: Er verteidigt das alte, untergegangene New York gegen die Schwindelwelt des neuen, die grobe, schmutzige, unverpixelte Realität gegen die infantilen Schatten- und Spiegelbilder im Netz, die menschliche Wärme und Nähe gegen die kalten, flüchtigen Kontakte und Klicks. Pynchon kennt und verachtet die Phantome und Herrschaftstechniken von Silicon Alley: Geboren aus der Sünde, erschöpft sich das Netz in "Shoppen, Daddeln, Abspritzen, endloses Streamen von Müll".

Allerdings wirkt "Bleeding Edge" in seinem enzyklopädischen Furor, seinem hektischen Gewimmel und Gewitzel, seiner labyrinthischen Verworrenheit und seinem nerdigen Humor manchmal auch wie ein Computerspiel aus dem Dark Net.

Der Betrugsermittler Pynchon macht weiter, als ob nichts geschehen wäre: Er lässt sich nicht vom fundamentalistischen Terror zu patriotischer Sinnstiftung erpressen. Zu den Kollateralschäden von 9/11, schreibt March einmal in ihrem Blog, gehöre der Siegeszug der Reality-Soaps im Fernsehen: "Als hätte die Ironie, unters Volk gebracht von einer kichernden fünften Kolonne, die Ereignisse vom 11. September eigentlich sogar herbeigeführt, indem sie das Land an hinreichendem Ernst gehindert und so sein Verständnis von der 'Realität' geschwächt hat.

Daher muss alles, was nur scheinbar wahr ist, dran glauben . . . Von jetzt an hat man alles wörtlich zu verstehen". Nicht mit Thomas Pynchon. Die Macht und Herrlichkeit literarischer Fantasie lässt er sich nicht nehmen und schon gar nicht seine Ironie.

(RP)
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