München Töne pflücken wie Trauben

München · Die Sopranistin Hanna-Elisabeth Müller rettete die Eröffnung der Elbphilharmonie. Jetzt sind ihre ersten CDs erschienen

Drahtseile von immenser Dicke und Belastbarkeit werden in der Musik immer dann benötigt, wenn ein Künstler von jetzt auf gleich in eine fremde Aufführung einspringt. Keine Probe hat er besucht, kein Konzeptionsgespräch miterlebt, er kennt weder den Dirigenten noch seine Tempi noch die Akustik des Saals. Er kommt mit dem Flugzeug und hat an Bord noch einmal die Partitur studiert. Sie ist ihm als Einziges vertraut.

Manche Karriere ist durch ein Einspringen geboren worden, aber es ist ein Unterschied, ob man eine Opernpartie bequem aus dem Graben singt und die halskranke Kollegin die Partie stumm auf der Bühne mimen lässt - oder ob man die feierliche Eröffnung der Elbphilharmonie retten muss, weil die Sopranistin erkrankt ist. Das ist Hanna-Elisabeth Müller im Januar passiert, die in der Branche längst bekannt war, als sie nichtsahnend in den verschneiten Alpen weilte und eine Yoga-Stunde nahm, als justament das Telefon klingelte. Ob sie am kommenden Abend sozusagen vor der Weltöffentlichkeit, vor Königen, Präsidenten und Kanzlern, vor der internationalen Musikkritik und vor allem vor Millionen Fernsehzuschauern das Finale aus Beethovens Neunter singen könne?

Hanna-Elisabeth Müller fackelte nicht lange und sagte zu. Der Vorschusslorbeer, der ihr vorab gewunden wurde, war überflüssig, ebenso die Bitte ans Publikum um zarte Nachsicht. Sie sang ihre Partie, als habe sie nie andere Pläne für diesen Hamburger Abend gehabt. Vielleicht besaß das kalte Wasser, in das sie sprang, nach all dem Schnee auch eine vertraute Temperatur.

Die 1985 in Mannheim geborene Künstlerin hat ein entspanntes Verhältnis zu dicken Dingern wie der Neunten, denn sie kommt ja aus kleinen Verhältnissen und kehrt immer wieder zu ihnen zurück: Sie versteht sich als Liedsängerin. Schubert, Schumann, Wolf, Berg, Strauss, das ist ihre Welt, die sie mit einem enormen Einsamkeitsbedürfnis jeden Tag aufs Neue erobert. Die einzigen Mitwisser, denen sie von dieser Welt berichtet, sind ihre Zuhörer. "Wenn ich auf der Opernbühne stehe, ist ja der Orchestergraben dazwischen", erzählt die Künstlerin, "das Liedpublikum sitzt direkt vor mir, wir werden beinahe zu einer Einheit."

Viele Jahre schien ihr die Oper sogar als ein verbotener Ort, fühlte sie sich als Unbefugte; Schlüssel und Zugangscode holte sie sich erst später. Da hatte sie die großen Liederzyklen bereits gesungen - "und das war ein Vorteil für mich. Ich habe mich so viel mit Deklamation, Aussprache und Vokalfärbung beschäftigt, dass ich das großartig nutzen konnte, um im Opernhaus auch im dritten Rang verstanden zu werden." Jetzt leiht ihr das Publikum der Bayerischen Staatsoper in München seine geneigten Ohren. Dorthin wurde sie direkt nach dem Mannheimer Gesangsexamen engagiert; in diesen Tagen weilt sie auf Gastspielreise in Japan - als Pamina in Mozarts "Zauberflöte".

Jetzt hat Hanna-Elisabeth Müller ihre erste Solo-CD "Traumgekrönt" vorgelegt und wieder mal eiserne Nerven bewiesen. Sie hat sich nicht auf bewährtes Repertoire verlassen, sondern einen nicht ganz gefahrlosen Ritt durch die Spätromantik unternommen. Da sind Lieder von Richard Strauss dabei, die man ganz gut kennt. Die sieben frühen Lieder von Alban Berg sind dagegen schon, obwohl eingängig, weniger vertraute Materie. Und eine Entdeckung sind die vier Lieder op. 2 des jungen Arnold Schönberg, Jahre vor dem Klimawandel in die Atonalität und Zwölftontechnik komponiert. Ihre Stimme ist wie mit Wohllaut geflutet, in der Höhe frei und ungefährdet, schillernd wie ein Opal in vielen Farben, nie gräulich oder gar klirrend eng.

Ihre weite, schöne Mittellage ist das Basislager, von der aus die Stimme alle Höhenflüge unternimmt, doch auch in die Tiefe geht es von diesem Fundament aus leichter. Nichts ist gepresst, nichts wirkt forciert. Sie singt, als müsse sie sich um die heikleren Fragen der Gesangstechnik keine Sekunde sorgen, und pflückt Töne ansonsten wie reife Trauben. Aber wir hören eben nicht nur eine wundervolle Stimme, sondern auch eine intelligente junge Frau, die in die Tiefen des Textes eindringt. Die uns, ihren Mitwissern, alles erzählt und doch die Geheimnisse des Liedes wahrt.

In der "Traumgekrönt"-CD hat sie sich abermals an die Seite ihrer Klavierpartnerin Juliane Ruf begeben, da spürt der Hörer zwei Herzen in allen Taktarten gemeinsam schlagen. Gleichzeitig erschien Müllers Aufnahme von Mahlers Vierter mit den Düsseldorfer Symphonikern unter Ádam Fischer. Die herrlichen Befunde des Tonhallenkonzerts lassen sich ohne Abstriche auf die (live mitgeschnittene) CD übertragen. Ihr Mahler ist ein freundlicher Zeitgenosse, der während der "Wunderhorn"-Lektüre in die Abgründe der Märchen und des Lebens geschaut hat. "Engelhaft ist dieses Orchesterlied nur begrenzt", sagt Müller. Und so wirkt sie auch in Mahlers seligen Sphären wie jenes "wilde Blut" in Bergs "Nachtigall", wie eine hochbegabte Künstlerin mit Eigensinn und wacher Auffassungsgabe.

Ausruhen, das ist nicht ihr Ding. Ihr Sinn will herausgefordert werden. Deshalb musste sie keine Sekunde nachdenken, als sie die Eröffnung der Elbphilharmonie retten sollte. Sie packte ihre Skier ein und fuhr zum Flughafen: einmal Hamburg und zurück.

(w.g.)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort