Wirbel um neues Grass-Gedicht Verwirrung um angebliche Fälschung

Mit seinem neuen Gedicht "Europas Schande", das sich mit der europäischen Griechenlandpolitik befasst, hat Günter Grass erneut für Aufsehen gesorgt. Ein Zeitungsartikel bezeichnete das Werk als Fälschung. Die Netzgemeinde reagierte prompt.

Günter Grass - Thesen und Fakten zum Israel-Gedicht
Infos

Günter Grass - Thesen und Fakten zum Israel-Gedicht

Infos
Foto: dapd, JENS MEYER

Ein Artikel in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" über ein angeblich gefälschtes Günter-Grass-Gedicht in der "Süddeutschen Zeitung" hat im Internet Verwirrung ausgelöst. "Dem Satiremagazin "Titanic" ist es gelungen, ein Gedicht unter dem Namen "Günter Grass" im Feuilleton der "Süddeutschen Zeitung" zu platzieren", stand am Wochenende zunächst online, dann gedruckt in der "FAS".

Darauf brach im Internet ein Sturm der Häme gegen die "SZ" los - obwohl das Grass-Gedicht über die Griechenlandpolitik Europas gar kein Fake war. "Das Grass Gedicht zu Griechenland kam von der Titanic? Großartigst", hieß es am Abend beim Kurznachrichtendienst Twitter. Ein anderer Twitterer schrieb zu der Aufregung im Internet: "Allein die Tatsache, dass der Titanic dieser Grass Stunt locker zugetraut wird, sagte schon viel aus über Deutschlands Großintellektuelle."

Stefan Plöchinger, Chefredakteur von "Sueddeutsche.de", griff aus dem Urlaub in Paris ein und stellte klar: "Ironie funktioniert nie. Aus den Tweets der vergangenen Stunden kann man das lernen...". Auf die verwirrte Frage eines Nutzers "So, wer wurde jetzt getrollt, die FAZ oder die SZ?" kam von ihm die Antwort: "Alle, die getwittert haben, die Titanic habe die SZ getrollt".

Autor will sich nicht entschuldigen

Der Autor des "FAS"-Artikels sieht seinen Beitrag nicht als Satire oder als Scherz. "Fiktion und Wahrheit sind ja nicht mehr wirklich zu unterscheiden", sagte Volker Weidermann. "Ob sich das jetzt die "Titanic" oder Günter Grass ausdenkt, ist für mich kein großer Unterschied." Entschuldigen in einem ernsthaften Sinne wolle er sich nicht. "Günter Grass wird es immer weiter treiben mit der Absurdität seiner Selbstgewissheit und das ist dann genauso lustig, wie wenn es die "Titanic" schreibt."

Die "SZ" hatte das Gedicht am Samstag veröffentlicht. Grass kritisiert darin, wie Europa mit dem Schuldenstaat Griechenland umgeht. Der Literaturnobelpreisträger macht den "Rechthaber Macht" für das Leiden der griechischen Bevölkerung verantwortlich - also die Macher von Spar- und Reformauflagen. Der Autor erhebt die These: Die Sparauflagen sind Gift für Griechenland.

In seiner Abrechnung mit Europas Griechenlandpolitik würdigt der Dichter die kulturhistorische Bedeutung des Landes mit seinen antiken Schätzen. Kein Wort verliert Grass jedoch über das neuzeitliche Wirtschaftsdrama, das im Grunde damit begann, dass sich Athen den Zutritt zum Euroclub mit frisierten Zahlen erschlich. Kein Wort über das Schummeln danach, das das Anwachsen des Schuldenbergs verschleierte. Kein Wort zum desolaten Verwaltungsapparat, zu Vettern- und Misswirtschaft der führenden Parteien - kein Wort zu den hausgemachten Problemen, die den Mittelmeerstaat in die Pleite führten.

Stattdessen hebt Grass auf die Folgen der Hilfsauflagen ab. Er vergleicht die bittere Medizin des Sparens, das zu Gehaltseinbußen und Stellenabbau führt und normale Bürger arbeitslos und ärmer werden lässt, gar mit einem Giftbecher: "Sauf endlich, sauf! schreien der Kommissare Claqueure, doch zornig gibt Sokrates Dir den Becher randvoll zurück", schreibt er unter Anspielung auf den Philosophen, der nach dem Todesurteil den Schierlingsbecher getrunken hatte.

"Man sollte Grass nicht mehr ernst nehmen"

Diese Sicht stößt bei dem Europapolitiker Gunther Krichbaum (CDU) auf Unverständnis. "Insgesamt sollte man Günter Grass nicht mehr ganz so ernst nehmen", sagte der Vorsitzende des Europaausschusses im Bundestag im Deutschlandradio Kultur. Grass Kritik "geht an der Wirklichkeit völlig vorbei". Griechenland sei enorm geholfen worden. Andere Politiker und Schriftsteller-Kollegen hielten sich mit Kommentaren zu Grass' neuem Werk auffallend zurück.

Im Internet reagierten manche Leser mit Spott. "Am meisten Schiss bei einem EM-Aus der deutschen Mannschaft habe ich vor dem anschließenden Gedicht von Grass", schreibt beispielsweise ein Nutzer auf Twitter.

Grass spricht kein Tabu-Thema an. Bereits vor einem halben Jahr hatte sich Altbundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) von der komplizierten Gemengelage betroffen gezeigt. "Wir brauchen ein mitfühlendes Herz gegenüber unseren Nachbarn und Partnern - und das gilt ganz besonders für Griechenland", appellierte Schmidt an den SPD-Bundesparteitag im Dezember.

"Rechtloses Land, dem der Rechthaber Macht - den Gürtel enger und enger schnallt", klagt Grass in dem Gedicht. Das ist der Tenor auch der Politiker der extremen Linken in Griechenland, die zwar in Euro-Land bleiben, aber den strengen Kurs der Geldgeber nicht einhalten wollen. Anders als bei seinem Israel-Gedicht streift Grass die deutsche Vergangenheit in seinem neuen Werk nur kurz. Offensichtlich mit Blick auf die deutsche Besatzung Griechenlands im Zweiten Weltkrieg schreibt er: "Die mit der Waffen Gewalt das inselgesegnete Land heimgesucht, trugen zur Uniform Hölderlin im Tornister.

"Geistlos verkümmern wirst du"

In Griechenland druckte das seriöse griechische Blatt "Kathimerini" die Grass-Verse. Der Kommentar einfacher Leute auf Fragen eines dpa-Reporter in Athen wirkt klar: Politiker machen die rationale Politik - Dichter drücken die emotionale Reaktion aus. Und so prophezeit der alte Mann der deutschen Literatur am Ende seines 24-Zeilers: "Geistlos verkümmern wirst Du ohne das Land, dessen Geist Dich, Europa, erdachte."

Vor knapp zwei Monaten war Grass wegen seines israelkritischen Gedichts "Was gesagt werden muss" scharf angegriffen worden. Ihm wurde Antisemitismus vorgeworfen, Israel erklärte den Autor zur unerwünschten Person. Grass sah darin eine Kampagne gegen seine Person.

Schon damals hatte Grass angekündigt: "Ich schweige nicht mehr." Mit Lyrik sucht der 84-Jährige eine kleine Form, um sich auszudrücken. Dabei sieht er sich in guter Tradition des politischen Gedichts in der deutschen Literatur. Deutlich wird: Grass lässt sich nicht mundtot machen. Der Eklat um das Israel-Gedicht "Was gesagt werden muss" hat ihn nicht verstummen lassen.

(dpa)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort