Jürgen Habermas im Gespräch "Vom Schwinden der Solidarität"

Düsseldorf · Der Heinrich-Heine-Preisträger Jürgen Habermas sprach mit unserer Redaktion über die Macht der Philosophen, die Zukunft Europas und den Wert des Glaubens

Er gilt als einer der bedeutendsten Philosophen der Gegenwart: Jürgen Habermas (83). Am Freitag wird ihm in Düsseldorf der renommierte und mit 50.000 Euro dotierte Heinrich-Heine-Preis verliehen.

Zu Ihrem 80. Geburtstag fiel das Schlagwort von der "Weltmacht Habermas". Stört Sie so etwas?

Habermas Das war ein schlechter Scherz. Mit ihren öffentlichen Stellungnahmen können Intellektuelle im besten Fall einen gewissen Einfluss ausüben. Macht haben sie nicht. Macht ist an Positionen gebunden, aufgrund deren man einen kompakten Willen gegen andere durchsetzen kann. Hingegen hängt der diffuse Einfluss von Intellektuellen nicht von einer Ermächtigung ab, sondern von der Überzeugungskraft ihrer Worte und auch von der Ausstrahlungskraft der Medien, über die sich die Worte verbreiten. Da ich mich beispielsweise nur in Zeitungen äußere, ist mein Einfluss schon aus diesem Grunde begrenzt.

Gerade musste die "Frankfurter Rundschau" Insolvenz anmelden; von einer solchen Zeitung kann sich die Internet-Generation gar nicht mehr vorstellen, dass sie einmal eines der wichtigsten meinungsbildenden Organe gewesen ist. Ihre Frage erinnert mich übrigens an einen Vortrag, den ich 1986 hier in Düsseldorf über "Heinrich Heine und die Rolle des Intellektuellen in Deutschland" gehalten habe. Heine ist noch nicht in den Genuss einer demokratischen Öffentlichkeit gekommen; er musste noch für die Durchsetzung von Pressefreiheit und gleichem Wahlrecht kämpfen. Aber aus der Emigration heraus ist er zum Prototyp des allgemeinen, vor allem von Schriftstellern verkörperten Intellektuellen geworden. Dieser Typ hat sich in Frankreich spätestens Ende des 19. Jahrhunderts mit der Dreyfus-Affäre durchgesetzt. In Deutschland haben sich erst nach 1945 engagierte Schriftsteller wie Heinrich Böll und Günter Grass mit dieser Rolle identifiziert.

Sie werden in Düsseldorf im Namen Heinrich Heines geehrt. Was bedeutet Ihnen sein Werk und sein Denken? Und was ist mit Heine und seiner Dichtung Neues in die Welt gekommen?

Habermas Nun, zunächst einmal liebe ich den ironisch gebrochenen romantischen Ton in Heines Liedern und Gedichten, vor allem in den späten "Lamentationen" aus der "Matratzengruft". Jeder Leser macht die Erfahrung, dass ihn dieser Autor zunächst lockt, sich dem einschmeichelnden Sog des anrührenden Tones hinzugeben — aber dass er spätestens in der letzten Zeile den betörenden Bann bricht, um den fast schon gefangenen Leser vom Abgleiten ins Sentimentale abzuhalten. Aber Heine interessiert mich auch als Zeitgenosse. Er ist der erste große "Zeitschriftsteller" gewesen, einer der ersten Poeten, die im Zeitalter der entstehenden Massenpresse ein neues Zeitbewusstsein zum Ausdruck bringen. Für seine Schriftstellerei wird das historische Bewusstein, das mit der Französischen Revolution über die Schwelle getreten ist, zur bestimmenden Kraft. Was Heine vor allem auszeichnet, ist die einzigartige Verbindung des polemischen Bewusstseins eines politischen Schriftstellers mit dem Wahrheitspathos des empfindsamen Lyrikers. Das einfühlende lyrische Ich, das sich zum unbestechlichen Seismographen der eigenen Regungen macht, spielt auch dort, wo es zum Resonanzboden der Zeitgeschichte wird, den Gegenpart zum parteinehmenden Zeitgenossen.

Ihr Blick auf den "Zeitgenossen" Heine führt auch zu aktuellen Fragen. Sie erwähnen die Gedichte des späten, religiös gewordenen Heine — welche Bedeutung sollte denn heute noch die Religion beziehungsweise religiöses Denken haben?

Habermas Die Frage, welche Rolle die Religion haben "sollte", müssen Kirchen und Religionsgemeinschaften beantworten. Aber solange diese tatsächlich eine vitale Rolle in der Öffentlichkeit spielen, müssen wir uns als Bürger Gedanken darüber machen, was der säkulare Staat von Religion und Kirche verlangen darf — und welchen Spielraum er ihnen auch im eigenen Interesse gewähren sollte. Wie die heikle, von einem Urteil des Kölner Landgerichts ausgelöste Debatte über die Beschneidung junger Muslime und Juden zeigt, rührt diese Frage nicht nur aufseiten der Betroffenen an Emotionen.

Manche Töne vonseiten der säkularen Beschneidungsgegner sind, wie mir scheint, eher symptomatisch für eine Verhärtung des vermeintlich aufgeklärten Bewusstseins. Als Philosoph vertrete auch ich selbstverständlich eine säkulare Position. Trotzdem muss ich mir über die Fülle der religiösen Gehalte und Motive Rechenschaft ablegen, die zwei Jahrtausende lang in die Arbeit und das Ergebnis der philosophischen Aufklärung eingeflossen sind. Niemand kann wissen, ob dieser für beide Seiten fruchtbare Aneignungsprozess, den wir bei Denkern wie Benjamin, Levinas oder Derrida beobachten, nicht fortgesetzt werden kann. Mangelnden Respekt vor diesem Menschheitserbe halte ich, solange es nicht für die Rechtfertigung religiöser Gewalt herhalten muss, für borniert.

Reicht es nicht, wenn alle Menschen sich so verhalten würden, "als gäbe es Gott", wie es damals Kardinal Ratzinger formulierte?

Habermas Lassen wir mal dahingestellt, ob der Papst mit dieser Maxime zufrieden sein kann. Tatsächlich trifft der "Als ob"-Charakter der Unterstellung, es gäbe einen persönlichen Gott, der uns am Jüngsten Gericht zur Rechenschaft zieht, ziemlich genau den Vorgang, der sich im öffentlichen Bewusstsein der weitgehend säkularisierten Gesellschaften Europas, Australiens und Kanadas vollzogen hat. Der "Gottesstandpunkt", von dem aus wir uns selbstkritisch und mit schlechtem Gewissen über die Schultern schauen, ist ja in der postreligiösen Gestalt des "moralischen Standpunktes" längst aus der Transzendenz in unsere Alltagswelt herabgeholt worden. Jeder unter halbwegs normalen Umständen Heranwachsende lernt, was es heißt, etwas unter dem moralischen Gesichtspunkt zu betrachten. Dann wissen wir wenigstens, was wir anderen unter allen Umständen schuldig sind, auch wenn es schwerfallen mag, entsprechend zu handeln.

In Zeiten, wo die wirtschaftlichen Imperative von Nutzenmaximierung und Leistungssteigerung bis in die Kinderstube vordringen und die halbe Lebenswelt kolonialisieren, geraten moralische Forderungen schon als solche in den Verdacht eines unpassenden Idealismus. Das Defizit liegt vielleicht woanders. Wir mögen ja, jeder für sich, hochmoralische Wesen sein. Aber wie steht es mit dem kollektiven Handeln, dem gemeinsamen Engagement für die Abschaffung der Zustände, die zum Himmel schreien? Was schwindet, sind die Motive der Solidarität, von denen immer wieder soziale Bewegungen gezehrt haben.

Gerade beim Thema der Embryonenforschung stehen Sie mit Ihren Bedenken an der Seite der katholischen Kirche. Auch wenn Sie sich als "religiös unmusikalischen" Menschen bezeichnen, ist es dennoch möglich, sich insbesondere in Fragen unseres Menschenbildes auch auf die Institution Kirche als eine Art ethischen Bündnispartner einzulassen?

Habermas Das finde ich, offengestanden, eine kuriose Betrachtungsweise: Die katholische Kirche ist natürlich auch eine politisch handlungsfähige Organisation, die mit anderen Mächten dieser Welt Koalitionen schließen kann. Aber ich bin weder koalitionsfähig noch bereit, mich für politische Bündnisse instrumentalisieren zu lassen. Mit der Glaubwürdigkeit, genau das und nur das zu meinen, was man sagt, würde ich das einzige Kapital verspielen, mit dem ungebetene öffentliche Stellungnahmen ausgestattet sind.

Hatten Sie nach ihrer vielbeachteten Begegnung mit dem damaligen Kardinal Joseph Ratzinger 2004 in München noch Kontakt mit ihm?

Habermas Nein.

Welche Bedeutung hat Ihrer Einschätzung nach Philosophie heute noch abseits des wissenschaftlichen Diskurses? Gibt es eine Rückkopplung des philosophischen Denkens zur alltäglichen Wirklichkeit — abseits von TV-Sendungen mit pseudophilosophischem Anstrich?

Habermas Philosophen sollten öfter in öffentliche Debatten eingreifen, vor allem, wenn es um normative Fragen geht. Sie haben eben das Beispiel der Bioethik erwähnt. Philosophen haben gelernt, wie man gute von schlechten Argumenten unterscheidet und wie man Begriffe klärt. Weil sie zwischen den Expertenkulturen und der Lebenswelt hin- und hergehen, können sie auch etwas Substantielles zum Selbstverständnis moderner Gesellschaften beitragen. Aber den Schlüssel zum Sinn des Lebens halten sie nicht mehr in der Hand. Sie sind keine Gurus und bilden für religiöse Heilswege keine Konkurrenz. Sie zeigen bestenfalls, wie man über existentielle Fragen des eigenen oder des kollektiven Lebens vernünftig reden kann. Kurzum, Philosophen besitzen kein Weltanschauungswissen; sie verwalten auch kein "wissenschaftliches Weltbild", wie einige meiner Kollegen immer noch meinen.

Muss sich philosophisches Denken nicht wieder stärker dem Gedanken und gesellschaftspolitischen Großprojekt Europa widmen? Sollte den Menschen gezeigt werden, dass Europa mehr ist als eine permanente Rettung des Euro?

Habermas Philosophen könnten beispielsweise besser als andere den Begriff der Solidarität klären und von einem moralisch begründeten Altruismus unterscheiden. Die Euro-Krise schürt heute nationale Egoismen, weil die Bilder auseinanderdriften, die die Nordländer und die Südländer in ihren nationalen Öffentlichkeiten jeweils voneinander entwerfen. Die Bilder werden zu Karikaturen, weil sie von falschen moralischen Erwartungen geprägt sind. Im Augenblick nähert sich die Krise der Schwelle, an der beispielsweise die deutsche Regierung ihren Wählern nicht länger verheimlichen kann, dass die Rettung der gemeinsamen Währung, und damit des europäischen Projektes insgesamt, mehr verlangt als nur Kreditzusagen für die einen und Sparauflagen für die anderen. Heute erzwingt die List der ökonomischen Vernunft, was Europafreunde bisher aus politischen und historischen Gründen gewollt, aber nicht geschafft haben — eine stärkere politische Integration, die auch für die teilweise Vergemeinschaftung der Schulden eine Basis bieten würde.

Trotzdem schenken die Regierungen den eigenen Bürgern keinen reinen Wein ein, weil sie ihnen das erforderliche Maß an Solidarität mit den anderen Nationen der Währungsgemeinschaft nicht zutrauen. Ich halte das für eine Unterforderung. Denn Solidarität heißt nicht Selbstlosigkeit. Sie ist etwas anderes als die Bereitschaft zu der Art von altruistischen Opfern, zu der wir uns in manchen Fällen moralisch verpflichtet fühlen. Die moralisch begründeten Erwartungen eines anderen sollen wir nämlich unbedingt, also ganz unabhängig davon erfüllen, ob sich dieser wiederum in ähnlichen Situationen auch uns gegenüber so verhalten wird. Das ist jedoch eine Voraussetzung für solidarisches Verhalten. Der eine steht für den anderen ein im Vertrauen darauf, dass der andere in Zukunft dasselbe auch für ihn tun wird. Diese Art von Vertrauen auf Reziprozität innerhalb überschaubarer Zeiträume bildet sich unter denen heraus, die längerfristig ein gemeinsames Schicksal erwarten und die deshalb genötigt sind, eine gemeinsame Perspektive einzunehmen. Und ist nicht genau diese Lage in Europa als eine Folge der gemeinsamen Währung entstanden?

Lothar Schröder führte das Gespräch.

(RP/felt)
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