Ostende Von Flut und Flucht in Ostende

Ostende · Großkünstler Jan Fabre ist bei der zum zweiten Mal stattfindenden Triennale von der Migrationskrise inspiriert.

Seine Kunst ist in vielen Genres zu Hause: Malerei, Skulptur, Literatur, Performance und Regie. Sie ist politisch, polemisch und extrem, stets darauf bedacht, der westlichen Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten. Mal lässt er ein Theaterstück über die Dauer von 24 Stunden laufen. Mal setzt er ein Deckenfresko aus 1,6 Millionen grün leuchtenden Käferpanzern zusammen. In Antwerpen betreibt Jan Fabre sein "Laboratorium". Hier treffen Musiker, Tänzer, Autoren und Schauspieler zusammen. Wenn also ein Großkünstler von seinem Kaliber ein Festival kuratiert, ist damit zu rechnen, dass er bei der Gestaltung des Programms auf sein weit verzweigtes Netzwerk zurückgreift.

Etwa auf den langjährigen Freund Mike Figgis, der mit seinem preisgekrönten Trinkerfilm "Leaving Las Vegas" 1995 für Furore sorgte. Der britische Filmregisseur weiß auch bei der Triennale von Ostende zu überzeugen. Sie befasst sich im Museum Mu.ZEE - und verteilt über 22 weitere Institutionen des Badeorts - mit der Flüchtlingsthematik. Den Ausgangpunkt für "Das Floß. Kunst ist (nicht) einsam" bildet ein Gemälde-Klassiker von 1819. Théodore Géricault nahm sich damals mit "Das Floß der Medusa" eines wahrhaften Schiffsuntergangs an.

Rund 150 Menschen, die mit der französischen Fregatte Medusa unterwegs waren, retteten sich auf ein Floß. Damit war ihr Martyrium lange noch nicht zu Ende. Ohne Proviant und Trinkwasser überlebten nur 15 den aussichtslosen Kampf. Und das nur dank der Bereitschaft zum Kannibalismus. Das bei Géricault heroisch überhöhte Drama kehrt in Mike Figgis Video "Survivalskills" (2017) im Gewand eines furios inszenierten Tanz-Duetts zurück. Beinahe wie zwei gut geölte Apparate wiederholen sie synchron und auf Spitzenschuhen die immer gleichen Schritte und Positionen. Dann wird die Musik aggressiver, das Licht verblasst, und die Kamera bedrängt die nur noch mühsam im Takt bleibenden Körper. Die aus allen Richtungen spritzenden Wasserfluten erschweren jetzt die Bodenhaftung. Die weißen Kleider bekommen Risse. Die Tänzerinnen verzerren vor Schmerz ihren Mund, schwanken und drohen hinzufallen. Nichts ist mehr übrig von der Disziplin. Dass sie an ihre Grenzen gegangen sind, goutiert im Finale der Performance ein im Dunkeln bleibendes Publikum mit tosendem Applaus.

Eine ähnliche Wucht erreicht Bill Viola mit seinem Video "The Raft" (2004). Auf einer raumgreifenden Leinwand sieht man eine Menschengruppe zunächst beim Warten zu. Plötzlich strömen gewaltige Wassermassen der Kamera entgegen. Eine Schlacht auf Leben und Tod beginnt, gefilmt in Slow-Motion, was jedes Bemühen, sich nicht auf den Boden drücken zu lassen, umso verzweifelter erscheinen lässt.

Chiharu Shiotas Installation "Uncertain Journey" (2017) erscheint da beinahe wie die Ruhe nach dem Sturm. Blutrote Fäden spannen sich bis zur Decke durch einen Raum. Ein verlassenes Holzboot ist in einer Ecke gestrandet. Die Insassen sind weitergezogen, könnte man denken, käme da nicht das laute Geräusch klappernder Zähne aus dem Nachbarraum. Wagt man sich zur Quelle des beunruhigenden "Sirenengesangs", erblickt man die riesigen Umrisse eines Gebisses, die aus dem schwarzen Nichts einer Videoinstallation von Daniele Puppi die aufs Komischste böse Botschaft senden: Komm näher, damit ich dich besser verspeisen kann.

Keine Frage, Jan Fabre beweist bei seiner Auswahl ein Händchen für theatralisch kondensierte Grenzsituationen, auch wenn nicht jeder der beteiligten Künstler mit Effekten des Schreckens arbeitet. Theater-Star Robert Wilson etwa begnügt sich damit, das Motiv der auf dem Floß liegenden Schiffbrüchigen aufzugreifen. Er lässt diese Rolle Lucinda Childs auf einer beinahe statischen Video-Leinwand übernehmen, nur dass die berühmte Choreografin einfach nur auf einem Kissen dahindöst und keinerlei Anstalten macht, um ihr Leben zu kämpfen.

Die Installation von Mika Rottenberg funktioniert ähnlich kontrastreich. Man betritt einen chinesischen Einkaufstempel, der in dem dazugehörigen Film mit allerlei überflüssigem Plastik-Spielzeug überflutet wird, während die Verkäufer apathisch in ihre Computer tippen. Wie überlebt man eine derart quietschbunte Konsum-Offensive? Indem man die Zähne zusammenbeißt oder sich vor Vergnügen in die hungrige Zunge beißt?

Vielleicht hilft ein Ausflug zu einem der Nebenschauplätze des Festivals, in ein Gerichtsgebäude oder auf die Pferderennbahn. Selbst auf dem Wasser kann man auf Anweisung eines weiteren belgischen Großkünstlers nach der drohenden Katastrophe fahnden. Welche Spuren Luc Tuymans auf dem ehemaligen Ausbildungsschiff "Mercator" hinterlassen hat, sollte man sich auf diesem verspielten, bitterernsten und in alle Reflexionsrichtungen strebenden Stadtparcours nicht entgehen lassen. Ostende ist ja nur knapp 300 Kilometer weit.

(RP)
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