Es war einmal... Warum Weihnachtszeit auch Märchenzeit ist

Düsseldorf · Warum sind Märchengeschichten zur Weihnachtszeit so beliebt sind, obwohl sie oft Grausamkeiten enthalten - und in der Regel noch nicht einmal von Weihnachten handeln? Unser Autor hat sich auf die Suche nach einer Antwort gemacht.

 Aschenbrödel und sein Prinz — inklusive schicker Föhnwelle.

Aschenbrödel und sein Prinz — inklusive schicker Föhnwelle.

Foto: WDR/DRA

Aschenbrödel ist verzweifelt. Ihre gehässige Stiefmutter hat sich eine neue Art von Schikane einfallen lassen, Linsen mit Mais vermischt, und das Ganze auf dem Boden verteilt. Ausgerechnet jetzt soll Aschenbrödel das Gemisch aufsammeln und sortieren. Dabei würde sie doch so gerne mit auf den Hofball gehen, um dort den Prinzen noch einmal zu treffen. Zum Glück ist Aschenbrödels Frust aber nur von kurzer Dauer: Wie durch ein Wunder eilen plötzlich Tauben herbei und erledigen die Arbeit für das Mädchen. Nun hat sie doch noch Zeit, sich für den Hofball schick zu machen. Wie passend, dass sich in einer ihrer verzauberten Haselnüsse auch noch ein geeignetes Ballkleid versteckt...

Wer die komplette Geschichte von "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel" (noch einmal) sehen will, bekommt allein an den Weihnachtsfeiertagen zehn Mal die Gelegenheit dazu. Denn so oft wie der tschechische Kultfilm von 1973, der nach Motiven des gleichnamigen Kunstmärchens von Bozena Nemcova aus dem Jahr 1845 entstand, wird kein anderes Märchen dieses Jahr im deutschen Fernsehen gezeigt. Doch auch deutsche Märchenverfilmungen sind in den Tagen bis zum Fest beliebt. Denn Weihnachtszeit ist Märchenzeit. Und das schon seit über einem Jahrhundert.

Da jedoch weder in "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel" noch in etlichen weiteren "Weihnachtsmärchen" die biblische Weihnachtsgeschichte auch nur angesprochen wird, stellt sich die berechtigte Frage: Warum ist das eigentlich so? Weshalb erfreuen sich Märchen wie das von Aschenbrödel besonders in der Adventszeit einer so großen Beliebtheit bei Jung und Alt? Gibt es überhaupt einen Zusammenhang zwischen Märchen und dem christlichen Weihnachtsfest?

Heinz Rölleke verneint die letzte Frage vehement. "Märchen und Weihnachten haben im Grunde nichts miteinander zu tun", sagt der Germanistik-Professor an der Bergischen Universität Wuppertal. Er gilt als Experte auf dem Gebiet der Märchenforschung. Warum dennoch vielerorts Weihnachtszeit auch Märchenzeit ist, erklärt Rölleke mit drei Phänomenen: dem Siegeszug der Kinderoper "Hänsel und Gretel", einer alten Tradition an Heiligabend, Hexenhäuser aus Lebkuchen und Schokolade zu verschenken, sowie Vorleseabenden im Kreis der Familie.

Die Uraufführung von Engelbert Humperdincks Oper "Hänsel und Gretel" am 23. Dezember 1893 in Weimar unter der Leitung von Richard Strauss markiere den Beginn der heute unweigerlichen Verknüpfung von Märchen und dem Weihnachtsfest, sagt Rölleke. "Die Oper wurde ein großer Erfolg, das Stück wenig später auf der ganzen Welt gezeigt." Die Theater- und Opernhäuser machten es anschließend zur Tradition, das Stück in der Vorweihnachtszeit zu zeigen. Da es zudem gut in die Adventszeit passte, wurde im Laufe der Jahre auch mal ein Tannenbaum auf die Bühne gestellt und zum Abschluss noch gemeinsam ein Weihnachtslied gesungen. So sei das Märchen irgendwann zum "Weihnachtsmärchen" deklariert worden, auch wenn es inhaltlich weder das Weihnachtsfest noch den Advent thematisiere.

Besonders weihnachtlich liest sich die Geschichte von Hänsel und Gretel tatsächlich nicht: Ein in Geldnot geratener Holzhacker setzt seine beiden Kinder im Wald aus. Auf der Suche nach etwas Essbarem geraten die Kinder an eine Hexe, die zu allem Überfluss auch noch eine Menschenfresserin ist. Die Hexe nimmt beide gefangen, versklavt das Mädchen und plant den Jungen als Festmahl ein. Nur durch eine List gelingt es den Kindern, ihre Peinigerin zu töten und aus dem Hexenhaus zu entkommen. "Die Kinder haben später aber erwartet, dass an Weihnachten dieses Stück gezeigt wird", sagt Rölleke. Daran hat sich auch zwei Jahrhunderte danach nichts geändert: An der Deutschen Oper am Rhein steht "Hänsel und Gretel" seit 1969 Jahr für Jahr auf dem Spielplan. Als einen weiteren Punkt für die schier magische und unumstößliche Verbindung nennt Rölleke eine alte Geschenketradition. Wie viele andere Kinder seiner Generation bekam er als kleiner Junge an Heiligabend oft ein Hexenhäuschen aus Lebkuchen und Schokolade geschenkt, vor dem dann zwei Figuren aus Marzipan standen: Hänsel und Gretel. "So setzte sich der Gedanke weiter fest, dass Märchen einfach zu Weihnachten gehören", sagt der 78-jährige gebürtige Düsseldorfer. Auch das Fehlen von Fernseher, Internet und sonstigen multimedialen Geräten ließ die Märchen- und Weihnachtswelt in den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts eine enge Bindung eingehen. Es wurde Brauch, an dunklen Winterabenden gemeinsam Märchen in der Familie zu lesen.

So lässt sich also die Verknüpfung von Märchen und Weihnachten nachvollziehen. Dass Märchen und Weihnachten im Grunde aber nichts gemein haben, dabei bleibt der Märchenforscher: "Der liebe Gott und das Christentum kommen in klassischen Märchen nicht vor, es kennt kein Weihnachten." Dass Märchen grundsätzlich nichts mit dem religiösen Weihnachtsfest zu tun haben, ist für ihn auch nur logisch. "In Märchen können Tiere sprechen, Wunder geschehen am laufenden Band. Was soll Gott da noch machen?"

Sabine Lutkat von der Europäischen Märchengesellschaft glaubt hingegen, dass Märchen "den tiefen Wunsch eines jeden Menschen nach Wundern befriedigen können, Hoffnung spenden und sinnstiftend sind. Denn letztlich siegt immer das Gute über das Böse, das Licht schlägt die Dunkelheit." Ihr Verein, die EMG, kümmert sich seit fast 60 Jahren um den Erhalt, die Weitererzählung und Pflege traditioneller Volksmärchen. Die Frage nach dem Zusammenhang von Märchen und Weihnachtszeit sei ein Dauer-Thema, sagt sie. Und das, obwohl nur in den wenigsten Fällen Märchen das Thema Weihnachten tatsächlich aufgreifen. "In den klassischen Volksmärchen wird Weihnachten nicht behandelt, in einigen moderneren hingegen schon. In skandinavischen Märchen ist es öfter der Fall. Aufgrund der Wintersonnenwende ist es ohnehin eine ganz besondere Zeit in diesen Ländern", sagt sie.

Genau definieren lässt sich der Begriff "Weihnachtsmärchen", im Einzelfall auch Wintermärchen genannt, also nicht. Es werden diejenigen Märchen als Weihnachtsmärchen deklariert, die entweder tatsächlich in der Weihnachtszeit spielen (moderne), oder diejenigen (klassische), die aufgrund ihrer Historie einen Bezug zur Weihnachtszeit haben.

Lässt sich die zunehmende Beliebtheit von Märchen in der Weihnachtszeit vielleicht sogar aus psychologischer Sicht nachvollziehen? Katharina Fleischer, Psychologin aus Duisburg, sagt: "Märchen stärken die Bindung zwischen den Menschen und Generationen, zum Beispiel wenn Eltern oder Großeltern den Kindern in der Adventszeit vorlesen." Vor allem in der Weihnachtszeit sei es zudem der Wunsch vieler, dass die Generationen zusammenfinden. Darüber hinaus sei die Adventszeit auch eine emotionale Zeit, in der viele Menschen derjenigen gedenken, zu denen sie keinen Kontakt mehr haben oder die bereits verstorben sind. "Märchen enden immer gut, und das entspricht den innersten Wünschen der Menschen. Sie schenken ihnen so Kraft."

Ob es nun an Hänsel und Gretel liegt, an Hexenhäusern aus Lebkuchen, Marzipan und Schokolade, dem sehnlichen Wunsch eines jeden Menschen nach einem Happy End oder einfach nur an den unzähligen Wiederholungen von "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel" im Fernsehen: Märchen gehören zu Weihnachten wie das Christkind, Plätzchen, Geschenke und der Tannenbaum. Ohne Märchen wäre die Weihnachtszeit doch nur halb so schön.

(RP)
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